Buchkritik -- Kettly Mars -- Ich bin am Leben

Umschlagfoto, Kettly Mars, Ich bin am Leben, InKulturA Einmal mehr ist das Erdbeben vom 12. Januar 2010 das zentrale Thema eines Romans von Kettly Mars. "Ich bin am Leben", so dessen Titel, erzählt die Geschichte der wohlhabenden Familie Bernier, die auf ihrem Anwesen mehr oder weniger unbeeinträchtigt von den Folgen der Katastrophe ihr Leben meint fortsetzen zu können. Doch plötzlich dringt mit dem an einer schweren psychischen Erkrankung leidenden Alexandre, der älteste Sohn der Familie, die Vergangenheit in die vermeintliche Behaglichkeit zurück und zwingt jedes Familienmitglied, sich erneut mit den zurückliegenden Jahren zu beschäftigen.

Das Erdbeben zerstört die Anstalt, in der Alexandre seit vierzig Jahren gelebt hat und er kehrt wieder in den Schoß der Familie zurück. Seine Anwesenheit zwingt alle Beteiligten, sich, fast wider Willen, der eigenen Geschichte zu stellen. Kettly Mars benutzt die Reflektionen der einzelnen Familienmitglieder und offenbart damit die tiefen Gräben die, familienintern einerseits, gesellschaftlich andererseits, das soziale Gefüge Haitis bestimmen.

Die Familie Bernier hat sich immer mit den jeweils Mächtigen arrangiert und nur das oftmals renitente Verhalten des jungen Alexandre brachte die gut situierte Konstruktion der materiellen und ganz und gar unpolitischen Behaglichkeit kurz ins Wanken. So bleibt die Frage, ob es sich bei seiner Krankheit, die ihn lange Jahre von der Familie isoliert leben ließ und die ihn, durch die Intervention seines Vaters, davor bewahrte, die Aufmerksamkeit der Herrschenden zu wecken, nicht eher eine verzweifelte, letzte Schutzmaßnahme gewesen ist, immer latent im Hintergrund des Romans.

Kettly Mars lässt jedes Familienmitglied zu Wort kommen, das in monologischen Rückblenden die jeweils individuell empfundene Entwicklung der Berniers schildert. Nur selten benutzt die Autorin die direkte Kommunikation zwischen den Geschwistern und der Mutter. Dabei kreisen die Gedanken um das zentrale Thema, die plötzliche Rückkehr des ältesten Sohnes, und die damit einhergehenden, bislang verdrängten Erinnerungen.

Es ist eine hermetisch abgeschlossene Welt, die Kettly Mars schildert. Das Schicksal der vielen Opfer des Erdbebens ist in dieser Sphäre materieller Saturiertheit kein Thema und so stellt das Erscheinen von Norah, die Marylène, einer auch im Ausland bekannten Malerin und Schwester von Alexandre, Modell steht, einen Einbruch der Realität in die selbstreflexiven Bequemlichkeiten der Familie Bernier dar. Dabei, Norah gibt das unumwunden zu, will sie, die seit dem Erdbeben in einem Zeltlager lebt, ebenfalls ausschließlich die materiellen Vorzüge der wohlhabenden Schicht genießen. Wer wollte ihr das verdenken?

So spiegelt dann auch der einzige Satz, den Alexandre auf die Frage einer Hausangestellten, warum er ihren Arm anfasst, erwidert, das tragische Symbol haitianischer Gegenwart wieder. "Weil ich am Leben bin ...", so seine Antwort in einem seltenen Moment der Klarheit geäußert, zeigt schmerzhaft, dass der gesellschaftliche Riss, der immer noch durch Haiti geht und an dem sich wohl auch in Zukunft nicht viel ändern wird, nur durch Flucht in die Schizophrenie ertragen lässt.




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Veröffentlicht am 19. März 2016