Val, eine Norwegerin, Architektin von der Ausbildung, aber Künstlerin, Zeichnerin vom Herzen her, lernt bei einer Ausstellung in Oslo Paolo kennen, verliebt sich in ihn und folgt ihm nach Mailand. Doch die junge Frau trägt eine schwere Hypothek mit sich herum. Von ihren Eltern, die aus beruflichen Gründen in die USA gegangen sind, früh verlassen und bei ihrer Tante Siv aufgewachsen, spürt Val in sich eine Leere, die sich nicht ausfüllen lässt.
„Es muss doch mehr darin liegen. Es muss doch möglich sein, dass es mehr gibt. In mir.“ In diesen Satz, den Hanne Ørstavik ihrer tragisch-einsamen Figur in den Mund legt, ist der Rahmen dessen abgesteckt, in welchem Ausmaß Val aufgrund der Ablehnung durch ihre Eltern leidet.
In die Welt gestoßen, bald darauf verstoßen, lebt Val, von ihrer Tante mit dem Notwendigsten versorgt, ein einsames, emotional leeres Leben. Ohne Frage, sie funktioniert im oberflächlichen, im bürgerlichen Sinn. Sie schließt ihr Architekturstudium erfolgreich ab, schwimmt mit im Strom der Alltäglichkeit, doch immer wieder wird ihr bewusst, dass sie keinen Zugriff auf den emotionalen Pool ihrer Mitmenschen hat. Sie findet in sich keinen Ruhepunkt, um den ihr Leben kreisen könnte.
Das hofft sie durch die Beziehung zu Paolo, Kurator einer zum Teil in Familienbesitz sich befinden großen Galerie, für den, im Gegensatz zu Val, Kunst primär finanzielle Aspekte besitzt, verändern zu können. Dass der noch verheiratet ist, aber seit Jahren von seiner Frau getrennt lebt, macht die Sache für Val nicht gerade leichter.
Auf der Suche nach sich selber, nach eigenen Gefühlen und nach so etwas wie emotionaler Stabilität lebt sie in ihrer Phantasie die Leben von Personen, die ihr zufällig begegnen. Sie konstruiert deren Geschichten und Möglichkeiten, dabei immer rekurrierend auf ihr eigenes Leben.
Sie will dazugehören. Zu Paolo, zu Mailand, zu Italien, zum Leben. Doch immer wieder scheitern ihre Versuche am Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, der Angst, nicht lieben zu können und drohen in Depressionen umzuschlagen und sie flüchtet sich darin, ihre Sehnsüchte mit denen der Figuren aus Antonionis Filmen zu vergleichen.
Erst die Ankündigung Paolos, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, sorgt bei Val für vorsichtigen Optimismus und die Hoffnung auf ein emotional stabile Zukunft.
Sprache als psychologisches Seziermesser benutzend, hat Hanne Ørstavik einen Roman geschrieben, der die Leserinnen und Leser geradezu zwingt, sich in die Situation Vals hineinzuversetzen, ihre Einsamkeit und ihre Zweifel an sich selber fast körperlich mitzuerleben. Die Hauptfigur, ins Leben geworfen und verlassen von den Eltern, erfährt Einsamkeit als Abwesenheit von Stabilität und als Unfähigkeit, funktionierende Beziehung zur sozialen Umwelt herstellen zu können.
„Milano“ ist ein Werk, das niemand unberührt hinterlässt und keine leichte Lektüre, denn es erfordert, mehr als einen wachen Verstand, die Bereitschaft, sich emotional parallel mit Val zu bewegen, um deren jahrelange und dramatische Versuche Anschluss an eine, wie auch immer gestaltete Realität zu finden, nachvollziehen zu können.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 1. September 2020