Buchkritik -- Evelina Jecker Lambreva -- Nicht mehr

Umschlagfoto, Buchkritik, Evelina Jecker Lambreva, Nicht mehr , InKulturA Der gesellschaftliche Mainstream fordert von denjenigen, die von seinen Versprechen überzeugt sind, einen hohen Tribut. Anpassung bis zur Selbstverleugnung und die Bereitschaft, jederzeit ein funktionierendes Rädchen der Maschine zu sein, ist ein hoher Preis, den nicht alle zu zahlen bereit sind, oder diesen zu entrichten, sie nicht mehr in der Lage sind.

Eine, die in ihrem Leben keinen Sinn mehr sieht, ist Gertrud. Vom Arbeitsmarkt ausgemustert und an einer Welt verzweifelnd, die nurmehr Egoismus und Einsamkeit zu bieten hat, trifft sie die Entscheidung, sich zu entsorgen und klettert in einen Müllcontainer, um zusammen mit anderen nutzlosen Dingen auf der Müllkippe der Vergänglichkeit ihr Leben zu beenden. Doch das Schicksal hat anderes mit ihr vor und genau in dem Moment, als sie mit ihrem Leben abschließt, fällt ihr selbiges in Form eines von seiner Mutter ebenfalls entsorgten Neugeborenen in den Schoß.

Das ist, zugegeben, ein unerhörter Plot, mit dem Evelina Jecker Lambreva ihren Roman "Nicht mehr" beginnen lässt. Doch damit zielt sie direkt auf den Mechanismus der Getriebenheit, der nur Mitläufer oder Verlierer kennt. Wer, wie der Investmentbanker Kilian, sich an die Regeln des Systems hält, gerät früher oder später an seine Leistungsgrenze und wird gnadenlos ausgemustert, mit für ihn dramatischen Folgen.

Es sind Momentaufnahmen von falschem, weil fremdbestimmtem Leben, die Jecker Lambreva in ihrem Roman beschreibt. Auf jeweils eigene Art sind die agierenden Personen miteinander verflochten und der Leser wird Zeuge, wie Latenzen plötzlich an die Oberfläche des Denkens drängen und nicht mehr subversiv, sondern fordernd und das Dasein verändernd wirken.

Damit verknüpft ist die Frage, und die Autorin scheut nicht, ihre Figuren ausgiebig darüber diskutieren zu lassen, welches Individuum das Recht auf eine zweite Chance erhalten darf und wer, im Fall der Roman angesprochenen lebensrettenden Transplantationen, darüber entscheiden sollte, welcher Mensch ein Spenderorgan erhält und welcher nicht.

Die Personen haben sich, so scheint es, in der sprachlosen Behaglichkeit des Normalen eingerichtet. Jedenfalls so lange, bis ihre sicher geglaubte Existenz, ihre alltägliche Disposition zur Verleugnung des Eigenen Risse bekommt und dahinter eine Welt nicht wahr genommener Möglichkeiten erscheint und eine Zukunft jenseits der bisher gelebten auftaucht.

Die Figuren, die Evelina Jecker Lambreva agieren lässt, sind Suchende, die gleichzeitig Angst davor haben, Findende zu werden. Erst langsam durchbrechen sie die harten Schalen der Gewohnheit und zaghaft versuchen sie neue Wege zu gehen, immer die Möglichkeit des Scheiterns vor Augen. Doch, und das zeigt der Roman eindringlich, ein eventuelles Misslingen ist allemal besser als ein Verharren im Status Quo.




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Veröffentlicht am 29. Oktober 2016