Buchkritik -- Jelena Katischonok -- Das Haus in der Palissadnaja

Umschlagfoto, Jelena Katischonok, Das Haus in der Palissadnaja, InKulturA Politische Geschichte gespiegelt in der Seele eines Hauses - geht das überhaupt? Aber natürlich, zumindest wenn die Autorin Jelena Katischonok heißt und mit der schriftstellerischen Gabe ausgestattet ist, niemals die Grenze zum Kitsch und zur übertriebenen Vermenschlichung von Gegenständen zu überschreiten.

Man schreibt das Jahr 1927, als in Riga ein Wohnhaus fertig gestellt wird, die Autorin spricht von der Geburt in einem verhältnismäßig glücklichen Jahr, dessen Besitzer ein junger Textilkaufmann ist. Die Miete im Haus mit der Nummer 21 ist, da es sich nicht im Zentrum der Stadt befindet, günstig und doch bietet seine Lage schnellen Zugang zur Innenstadt. Es dauert nicht lange und das Haus kann seine ersten Bewohner begrüßen. Die Autorin läßt in ihren Roman "Das Haus in der Palissadnaja" die wechselhaften Zeiten des frühen 20. Jahrhunderts Revue passieren und endet mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Die Betrachtung und die Interpretation von Geschichte ergibt sich meist aus dem Gesamtbild, das die nachfolgenden Generationen aus der Sicht der jeweiligen Gewinner erhalten. Jelena Katischonok geht in ihrem Roman einen anderen Weg und lässt die Vergangenheit in Gestalt von Individuen auferstehen, die ein ansonsten gern zur Abstraktion neigendes Geschichtsverständnis aus der Sicht der jeweiligen Akteure erzählt.

So wechselhaft wie die Zeiten, so unterschiedlich sind auch die Bewohner des Hauses in der Palissadnaja. Regelt in den wenigen Jahren vor den wechselnden Besetzungen Lettlands das Angebot und die Nachfrage den Zuzug in das Haus und lässt somit eine bunte Mischung von Typen und Charakteren zu, die der Nummer 21 Leben und Harmonie verleihen, so spiegelt die sich ablösende sowjetische und deutsche Besatzung die Willkür des politischen Zeitgeistes und den sich daraus ergebenden Wechsel der Bewohner des Hauses in der Palissadnaja 21 wider.

Es ergeben sich Schicksale, die, geschuldet der jeweiligen Ideologie, Brüche erhalten und die, haben die Betroffenen Glück, nur mit der Deportation enden. Nicht selten jedoch erfährt individuelles Leben durch den politischen Irrsinn des frühen 20. Jahrhunderts ein weitaus tragischeres Ende.

Die Autorin erzählt, mal ruhig, mal mit Witz, immer jedoch mit Anteilnahme den Lebensweg der Bewohner des Hauses, die den historisch Wirren schutzlos ausgeliefert sind. In Zeiten von Willkür und politischer Verfolgung sind Recht und Gesetz aufgehoben. Ein kritisches Wort, eine Religionszugehörigkeit oder die familiäre Abstammung entschieden über Leben und Tod. Die Menschlichkeit ist außer Kraft gesetzt und durch Opportunismus ersetzt.

Dabei entzieht sich Jelena Katischonok jeder vordergründigen Kritik am Handeln der Personen. Ihre Aufgabe ist denn auch eher die einer Chronistin, die sich trotzdem des Mitgefühls für die Opfer der sich ablösenden Diktaturen nicht erwehren kann. So erhält der Leser gerade durch die Zurückhaltung der Autorin in Bezug auf Zeitkritik eine Ahnung vom oft gnadenlos zuschlagenden Schicksal in Form politischer Verfolgung und der daraus resultierenden Vernichtung des Individuums.

Den wechselvollen Lauf der Zeit bekommt auch das Haus in der Palissadnaja zu spüren. Einst tadellos vom Hausmeister Jan Maigars betreut, bleiben im Lauf der Zeit kleinere und größere Reparaturen aus und auch der einstmals gut gepflegte Stille Portier, der ganze Stolz des Hauses, resigniert und wird ebenfalls ein Opfer der politischen Wirren.

"Das Haus in der Palissadnaja" von Jelena Katischonok ist lebendig erzählte Geschichte, die niemals das Wesentliche historischer Zeitläufe aus den Augen verliert. Dies sind und bleiben die vielen Menschen, die, geopfert aus verabscheuungswürdigen ideologischen Motiven, zu Verlierern oder Gewinnern im Spiel der wenigen Großen werden.

Doch vergessen werden sie niemals, denn, so die Autorin, "Die Spiegelbilder all deren, die gegangen waren, blieben wie Abdrücke, die für immer bewahrt werden würden. Wie wäre auch sonst zu erklären, dass Spiegel mit der Zeit blind werden?"




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Veröffentlicht am 22. November 2014