Manche nennen es verklärt die Einwanderung exotischer Arten, die Wissenschaft hat dafür den Terminus Invasionsbiologie und die, die es von Berufs wegen wissen müssen, Polizei, Justiz und Nachrichtendienste bezeichnen es, wenn auch durch lange kognitive Verdrängung der Politik, als Vordringen der organisierten Kriminalität nach Deutschland.
Bruno Ziegler, ein pensionierter Notar, der während seiner Forschungen zur Geschichte der Henkersmahlzeit in die Kreise der Ehrenwerten Gesellschaft gerät, wird erschossen in seinem Erster Klasse Abteil des Eurocity EC 82 aus Bologna aufgefunden. Kein Mitreisender will etwas gehört oder gesehen haben und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass der Fall ein kalter wird.
Ein langjähriger Freund des Toten findet und veröffentlicht – mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft – die Notizen und Aufzeichnungen seines Freundes, der, so glaubt er nach deren Lektüre zu wissen, ein Opfer der Cosa Nostra geworden ist.
Ausgerechnet im bilderbuchschönen Allgäu, mitten in Deutschlands touristischem Zentrum im Süden der Republik, hat sich die Mafia niedergelassen. Aus kleinen Anfängen, einer Gelateria oder einer Pizzeria, eröffnet in den späten 60er Jahren, werden große, inzwischen international abgewickelte illegale Geschäfte.
Lange Zeit von den politisch Verantwortlichen geleugnet, hat sich die Krake des organisierten Verbrechens längst im Allgäu und auch in anderen Teilen Deutschlands ausgebreitet. Gerhard Köpf hat einen Roman – oder ist es nicht eher ein Sachbuch mit literarischer Fiktion? – geschrieben, der die Mechanismen der Verschiebung der Palmengrenzen, der Landnahme durch die Cosa Nostra und anderer Zweige der gar nicht so ehrenwerten Gesellschaft beschreibt.
Wo noch vor Jahren Schusswaffen und andere Mordwerkzeuge zum Zuge kamen, also mediale Aufmerksamkeit erregt wurde, spielt die Mafia, die in Filmproduktionen à la Hollywood nur allzu gern fast mythisch verklärt wird, jetzt nach den Regeln des Neoliberalismus. Nadelstreifenanzüge und akademische Bildung haben Maschinengewehre und Stilette ersetzt und nicht selten wird der erstaunte Bürger Zeuge eines Schulterschlusses zwischen Politik und OK.
Die Notizen des Ermordeten sprechen Bände. Da inszenieren sich Mafiagrößen als Kunstmäzene und Sponsoren, betreiben vordergründig legale Firmen, sind immer bestens vernetzt in Politik und Medien und durch die vielfältigen, nicht immer transparenten Beziehungen zu politischen Größen fast unangreifbar.
Nur noch in seltenen Fällen, Bruno Ziegler ist bedauerlicherweise einer davon, sprechen Waffen. In der Regel, die keine Ausnahme mehr zu haben scheint, wechselt Geld unauffällig den Besitzer und ebnet den Weg für so manches nach außen legale, im inneren jedoch höchst kriminell-profitable Geschäft.
Längst, so die Aufzeichnungen des Toten, sind die Grenzen zwischen organisierter Kriminalität und neoliberaler Wirtschaft fließend geworden. Das während eines „Familientreffens“ verabschiedete Fünf Punkte-Programm könnte gleichzeitig das Strategiepapier eines Global Players sein – niemand würde den Unterschied der Quellen erkennen.
Wie jeder große international agierende Konzern, der am Markt bestehen will, ist die Mafia dabei, ihre Tätigkeitsfelder und Dienstleistungen den neuen Verhältnissen und damit den enormen Gewinnaussichten anzupassen. So ist die Umwelt- und Migrationspolitik neben dem Drogen- und Menschenhandel die aktuell lukrativste Einnahmequelle.
„Palmengrenzen“ ist ein bitterböser Roman über ein Thema, dem die Verantwortlichen in Politik und Justiz erst Aufmerksamkeit geschenkt haben, als der Kuchen, nicht nur der des Allgäus, längst verteilt war.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 5. September 2020