Umschlagfoto, Philosophie Magazin, 06/2016 , InKulturA Ein Mensch, will er teilhaben an den zahlreichen Verheißungen der digitalen Welt, muss hinsichtlich seiner Privatsphäre gezwungenermaßen ein liederlicher sein. Das ist die Voraussetzung, um überhaupt Mitglied im Club der global Vernetzten zu werden. Nur allzu gern macht er seine Person gläsern, teilt Intimes mit der "Community" und ermöglicht damit, dass im Hintergrund Big Data fleißig Material sammelt, um - im Normalfall - personalisierte Werbung zu kreieren oder - im Ausnahmefall - ihn lückenlos überwachen zu können.

Während es niemand, überspitzt ausgedrückt, einfallen würde, um 2 Uhr morgens am Hauptbahnhof nackt und mit einem Plakat, auf dem alle persönlichen Daten wie Name, Adresse, Bankverbindung, (sexuelle) Praferenzen, etc. dargelegt sind, zu flanieren, sieht dies bezüglich der meist freiwillig hinterlegten Angaben im Netz vollkommen anders aus. Nun wäre es an sich relativ harmlos, wenn persönliche Daten auf getrennten Servern gespeichert sind. Problematisch wird es allerdings, wenn diese miteinander vernetzt werden, um ein Profil der Person X zu erstellen. Damit, neben der Echtzeitüberwachung, wird es möglich, unter Benutzung raffinierter Algorithmen das zukünftige Verhalten dieser Person vorherzusehen und wie bei der Kriminalitätsbekämpfung in den USA, auf die eine oder andere Weise darauf zu reagieren.

"Wie berechenbar sind wir?", diese Frage stellt das Philosophie Magazin in seiner neuen Ausgabe. Prognosen sind beileibe keine Erfindung der digitalen Moderne. Verhaltensanalysen und Wetterberichte wären ohne die statistische Auswertung von Daten nicht möglich. Insofern war und ist es ein humanspezifisches Movens, die Möglichkeiten der Zukunft unter Zuhilfenahme der Kenntnisse von Vergangenheit und Gegenwart zu antizipieren. Was sich jedoch mit der globalen Vernetzung dramatisch verändert hat, ist die Tatsache, dass staatliche Institutionen und Unternehmen dadurch das Instrumentarium in der Hand haben, um den Bürger, ob Teilnehmer an "sozialen Netzwerken" oder nicht, für ihre jeweiligen Intentionen transparent zu machen. Wer fragt sich z. B. nicht, aus welchen Gründen man mit obskuren Werbemails überschüttet wird und wie die Versender derselben an selten benutzte E-Mail Adressen gelangen.

Der Störenfried, so Dieter Thomä, Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, in einem weiteren Beitrag, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Demokratie. Niemand verkörpert das Unbehagen an bestehenden Zuständen besser als dieser quer zum Zeitgeist sich stellende Unruhestifter, der die Legitimation der bestehenden Ordnung hinterfragt. Aber, um es salopp auszudrücken, wenn ein solcher Provokateur der politischen Bequemlichkeit die Kurve nicht kriegt und die Bahn des Konstruktiven verlässt, dann droht aus dem Störenfried ein Extremist zu werden. Fanatiker jeglicher Couleur sind aus diesem Holz gemacht.

Lange Zeit belächelt und als Symbol für Spießbürgertum desavouiert, erfreut sich der Schrebergarten gerade bei jungen Großstadtfamilien einer überraschende Renaissance. Svenja Flaßpöhler nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit und schlägt einen großen Bogen von den Ursprüngen - auch deren zweifelhafte in Gestalt des Namensgebers Moritz Schreber - zu den jeweils eigenen Vorstellungen der heutigen Nutzer. Eines ist jedenfalls bis auf wenige Ausnahmen gewiss, Krähwinkel am Stadtrand war gestern.

Die eigentliche Überraschung des Magazins ist jedoch der Beitrag von Barbara Vinken, der sich um einen Begriff der Keuschheit dreht, der aus dem Wortschatz der Gegenwart verschwunden zu sein scheint und dessen Bedeutung wohl nur noch wenigen Menschen bewußt ist. Wenn, wie die Autorin schreibt, "... man von Entäußerung, Entrückung und Hingabe nichts mehr ahnt", dann ist das schon ein arger, leider selten zu lesender Seitenhieb auf die sexuelle Konnotation moderner Selbstdarstellung. Chapeau!




Veröffentlicht am 1. Oktober 2016