Buchkritik -- Barbara & Walter Erdmann -- Pisspottschnitt und Zöpfe

Umschlagfoto  -- Pisspottschnitt und Zöpfe Die Erlebnisse in der Kindheit prägen das weitere Leben. Das ist eine Binsenweisheit, bei einem gelungenen Leben aber auch ein gern, aber nur temporär nutzbares geistiges Rückzugsgebiet in Tagen des Erwachsenseins. Kindheitserinnerungen begleiten einen Menschen, ob er das will oder nicht, und kommen sporadisch an die Oberfläche des Bewusstseins. Wohl dem, der ohne Wut und Empörung, ohne Schmerz und Leid an diese Zeit zurückdenken kann.

Barbara und Walter Erdmann haben ihren Kindertagen im Ruhrgebiet ein Büchlein gewidmet, das ohne Glorifizierung, die im Nachhinein eher fragwürdig und verklärend daherkommt, von unbeschwerten, aber durchaus auch, zumindest an heutigen Maßstäben gemessen, harten Zeiten erzählt.

Nun ist bekanntlich der Ruhrpott eine Wiege für stimmungsvolle und atmosphärisch dichte Erzählungen, die für alle Leser, die mit dem einst durch Kohlezechen und Schwerindustrie geprägten Lebensrhythmus dieser Region nicht vertraut sind, manchmal einige Herausforderungen in Sachen Nachvollziehbarkeit bereithalten. Diese Klippe umschifft das Autorenpaar gekonnt und beschreibt die 50er und 60er Jahre aus der Sicht eines Jungen und eines Mädchens.

Fern davon, dass früher alles besser gewesen ist, wird der Leser Zeuge eines Alltags, an dem vieles anders war, als es Kinder heute geboten - oder verboten - bekommen. Das Zusammenleben mehrerer Generationen auf engem und engstem Raum, beschränkte finanzielle Mittel, die durch familiären Einfallsreichtum und einen Blick für das Wesentliche jedoch niemals für die Existenz bedrohlich wurden und, wie selbstverständlich, Respekt für die natürliche Generationenfolge, all das steht vor dem geistigen Auge des Betrachters, wenn er das Buch "Pisspottschnitt und Zöpfe" in die Hand nimmt.

Es sei die These gewagt, dass das Lesepublikum während der Lektüre des Öfteren an die eigene Kinder- und Jugendzeit erinnert wird und sich in vielem hier erzählten wiederfinden kann. Gemeinsames Spielen auf der Straße war die Regel und ein Ausflug an den nächsten Baggersee konnte ein Ereignis sein, dass auch noch viele Jahrzehnte danach einen bleibenden Eindruck hinterließ. Welch ein Unterschied zur heutigen digitalen Vereinzelung und zu dem, einem veränderten Reiseverhalten geschuldeten modernen Phänomen, dass Jugendliche zwar eine angesagte Sushibar in New York kennen, ihre Heimatregion für viele von ihnen jedoch eine Terra incognita bleibt.

"Pisspottschnitt und Zöpfe" berührt auf subtile Weise und fördert auch beim Leser längst verloren geglaubte Kindheitserinnerungen wieder zutage.

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