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Buchkritik -- Dolores Redondo -- Wenn das Wasser steigt

Umschlagfoto, Buchkritik, Dolores Redondo, Wenn das Wasser steigt, InKulturA „Wenn das Wasser steigt“ ist ein Roman, der den Leser von der ersten Seite an in seinen Bann zieht. Nicht allein wegen einer Handlung, die mit unvorhersehbaren Wendungen überrascht, sondern auch durch den meisterhaft komponierten Sprachstil und die dichte Atmosphäre, die Dolores Redondo erschafft. Schon zu Beginn wird der Leser in eine Welt hineingezogen, in der sich die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit nahezu auflösen, sodass man sich vorstellt, selbst im Jahr 1983 durch die verregneten, von Nebel und Schatten umhüllten Straßen Bilbaos zu wandeln.

Redondo, die sich selbst stolz als „Autorin von Stürmen“ bezeichnet, versteht es, die Stadt in all ihren Facetten zu porträtieren. Mit unermüdlicher Detailgenauigkeit malt sie das Bild einer rauen Hafenstadt: Die nassen Pflaster, die feuchten, glitzernden Fassaden der historischen Gebäude, die düsteren Tavernen und die scharfen, fast greifbaren Gerüche von Salz und Abfall, die in der Luft hängen. Besonders während Aste Nagusia – Bilbaos größtem Festival – wird der Leser Zeuge einer Transformation: Aus dem tristen Stadtbild erwacht ein Kaleidoskop aus Farben, Klängen und Emotionen, in dem jeder Regentropfen, der auf die alten Dächer prasselt, die unausgesprochene Spannung einer Stadt am Rande des Abgrunds widerspiegelt. Diese kunstvoll inszenierte Szenerie lässt das Publikum nicht nur die Feuchtigkeit der Luft riechen, sondern auch den Hauch von Verzweiflung und Hoffnung zugleich spüren.

Im Zentrum der Erzählung steht Noah Scott Sherrington, ein schottischer Kriminalpolizist, dessen persönliche Geschichte und innerer Konflikt das narrative Rückgrat des Romans bilden. Auf der Jagd nach dem berüchtigten Serienmörder „Bible John“ – einem Phantom, das sich durch sein unscheinbares Äußeres und das Fehlen konkreter Zeugenaussagen tarnt – gerät Noah in ein Netz aus tragischen Schicksalen. Als er dem Täter endlich auf die Spur kommt, erleidet er einen Herzinfarkt, der nicht nur seine Karriere abrupt beendet, sondern ihn auch mit einer dilatativen Kardiomyopathie konfrontiert. Mit nur noch wenigen Wochen oder Monaten Leben vor Augen, wird Noahs unerschütterlicher Wille, das Rätsel zu lösen, von einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und lähmender Müdigkeit begleitet. Dennoch lässt ihn diese Schwäche nicht los, vielmehr treibt ihn der innere Drang, seinem Verdächtigen bis nach Bilbao zu folgen.

Die Stadt Bilbao selbst wird von Redondo als ein Ort voller Widersprüche dargestellt. Mit ihren schmutzigen Hafenvierteln, den rauen Arbeitervierteln, einem allgegenwärtigen Müll- und Drogenproblem und einem unaufhörlichen Regen erscheint Bilbao fast als eine urbane Metapher für den ständigen Kampf zwischen Verfall und Erneuerung. Der von der Stadt faszinierte Killer vergleicht Bilbao sogar mit Glasgow, was dem Bild der Stadt eine zusätzliche, geheimnisvolle Tiefe verleiht.

In diesem Milieu beginnt ein fesselndes Katz-und-Maus-Spiel: Während der Verdächtige sich inmitten einer Gruppe britischer und irischer Auswanderer versteckt – eine Gruppe, die auch das Interesse von Mikel Lizarso weckt, einem örtlichen Polizisten, der den Verdacht hegt, dass die IRA in Verbindung mit der ETA steht –, zieht sich die Jagd immer weiter in die düsteren Ecken der Stadt hinein und schaffen einen historischen Rahmen, der die Spannung weiter anheizt.

Die Erzählung wird durch eine Reihe facettenreicher Nebenfiguren bereichert. So fügt die Beziehung zwischen Noah und Maite eine subtile, aber tief emotionale Komponente hinzu, die den harten Kriminalfall mit menschlicher Zärtlichkeit und Verletzlichkeit verbindet. Insbesondere die Figur Rafa, ein Junge mit Zerebralparese, der gemeinsam mit seinem treuen Hund Auri eine tragische Rolle in der Handlung spielt, unterstreicht Redondos einfühlsamen und respektvollen Umgang mit gesellschaftlich relevanten Themen. Sie beleuchtet nicht nur die alltäglichen Herausforderungen, die mit dieser Erkrankung einhergehen, sondern zeigt auch Momente der Hoffnung und des Durchhaltevermögens, die dem Leser einen intensiven Einblick in das menschliche Drama gewähren.

Die Spannung in „Wenn das Wasser steigt“ wird meisterhaft aufgebaut. Auch wenn es Abschnitte gibt, in denen die Handlung scheinbar ruhiger verläuft, schleicht sich eine immer drückendere Intensität ein, die letztlich in einem fulminanten Finale gipfelt. Das metaphorische und buchstäbliche Hochwasser, das über die Stadt hereinbricht, wird zum Symbol für den unaufhaltsamen Lauf des Schicksals und der Ermittlungen, die sich in einem spektakulären Höhepunkt entladen.

Ein weiteres herausragendes Element des Romans ist die geschickte Einbindung der Musik der 80er Jahre. Die Songs jener Ära – mit unvergesslichen Klängen von Größen wie David Bowie, Bonnie Tyler und Nick Kershaw – dienen als emotionaler Soundtrack, der die Stimmung und die inneren Konflikte der Charaktere intensiv untermalt. Besonders Nik Kershaws „Wouldn’t It Be Good“ taucht immer wieder auf und wird zur stimmungsvollen Hymne, die Noahs innere Zerrissenheit und seinen sehnlichen Wunsch nach einem Ausweg aus seiner tragischen Lage verkörpert.

Zusammengefasst bietet „Wenn das Wasser steigt“ eine facettenreiche Erzählung, die mit komplexen Emotionen, unvergesslichen Charakteren und einer nahezu greifbaren Atmosphäre begeistert. Redondo gelingt es, den Leser nicht nur Zeuge, sondern aktiven Teilnehmer der Geschichte werden zu lassen. In diesem Kriminalroman, der weit über das Genre hinaus als große Literatur zu werten ist, verschmelzen historische Bezüge, gesellschaftliche Themen und eine meisterhaft erzählte Handlung zu einem unvergleichlichen Leseerlebnis.




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Veröffentlicht am 27. März 2025