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Buchkritik -- Timothy Snyder -- Über Freiheit

Umschlagfoto, Buchkritik, Timothy Snyder, Über Freiheit, InKulturA Nach dem Fall der Berliner Mauer brach eine Welle der Euphorie aus, getragen von der Hoffnung auf den triumphalen Einzug der Demokratie in ganz Osteuropa und schließlich auch in Russland, nachdem die Sowjetunion in sich zusammenbrach. Doch dieser Optimismus verflüchtigte sich allmählich. Die verheißungsvolle Aussicht auf einen umfassenden demokratischen Wandel wich zunehmend Frustration, Enttäuschung und schließlich tiefer Besorgnis. Russland wandelte sich nicht zu einer liberalen Demokratie, und auch viele seiner einstigen Satellitenstaaten blieben auf dem Weg dorthin stecken.

Nur wenige Denker hatten wohl so viele Gelegenheiten und Gründe, über diese Entwicklungen nachzudenken, wie Timothy Snyder. Bevor er eine Professur in Yale annahm, verbrachte er mehrere Jahre in Mittel- und Osteuropa. Dort lernte er nicht nur viele Länder und Kulturen kennen, sondern eignete sich auch diverse Sprachen an und traf zahlreiche Menschen – darunter mutige Dissidenten, die gegen die kommunistische Herrschaft Widerstand geleistet hatten.

Snyders Werk „Über Freiheit“ ist ein facettenreiches Buch, das sich zwischen autobiografischen Schilderungen und politisch-philosophischen Betrachtungen bewegt und in Teilen sogar den Charakter eines Manifests annimmt. Neben seinen persönlichen Erfahrungen in Osteuropa reflektiert Snyder über die politischen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte und webt dabei gedankliche Ausflüge zu bedeutenden europäischen Denkern ein – von den Philosophinnen Simone Weil und Edith Stein bis hin zu den Widerstandsikonen Václav Havel und Adam Michnik, die in ihren Ländern für Freiheit und gegen Unterdrückung kämpften.

Die Frage nach Freiheit beschäftigt Philosophen seit Jahrhunderten – von Aristoteles und Kant bis hin zu John Stuart Mill und Isaiah Berlin. Doch Snyders episodisches und diskursives Werk lässt sich nicht ohne Weiteres in diese Tradition einordnen und erhebt auch nicht den Anspruch, ein stringentes philosophisches Argument zu liefern. Dennoch folgt er Berlins berühmtem Konzept der „zwei Freiheitsbegriffe“. Snyder greift die Idee der „negativen Freiheit“ auf – also die Abwesenheit von Zwang –, geht aber noch darüber hinaus. Für ihn bedeutet negative Freiheit auch das Recht, Hunger zu leiden oder an einer unbehandelten Krankheit zu sterben. Diese Freiheit, so Snyder, sei lediglich eine notwendige Voraussetzung, aber nicht die Freiheit selbst. Die wahre Freiheit, die positive Freiheit, in der ein gutes und erfülltes Leben möglich ist, erfordert kollektives Handeln und die Schaffung gemeinschaftlicher Strukturen. Trotz seiner tiefen Verbundenheit mit Osteuropa und seinem feinsinnigen Verständnis für die politischen Herausforderungen dort, ist Snyder auch sehr klar in seiner Analyse der Freiheitsproblematik in den USA. Neben seiner akademischen Tätigkeit engagiert er sich als Lehrer in amerikanischen Gefängnissen, was ihm einen schmerzhaft intensiven Einblick in das System der Masseninhaftierung und dessen unzählige Ungerechtigkeiten verschafft hat. Ebenso kritisch sieht er das Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten, das in seiner aktuellen Form weit davon entfernt ist, jedem Bürger grundlegende Menschenrechte wie medizinische Versorgung zu garantieren.

Die Schwäche seiner Analyse zeigt sich jedoch, wenn Snyder von der Diagnose zur Therapie übergeht. „Ein allgemeiner Zugang zur Gesundheitsversorgung ist möglich, wünschenswert und für die Zukunft der Freiheit unabdingbar“, schreibt er. Doch diese edle und notwendige Vision kollidiert mit der politischen Realität in den USA, wo ein universelles Gesundheitssystem, wie es in den meisten westeuropäischen Ländern existiert, in naher Zukunft kaum durchsetzbar scheint. Auch die Aussicht auf eine umfassende Reform des Strafvollzugssystems bleibt düster, selbst unter einer möglichen Präsidentschaft von Kamala Harris.

Immer wieder kehrt Snyder in seinem Buch auf den Konflikt in der Ukraine zurück, wo sich der Kampf zwischen Freiheit und Unterdrückung in besonders drastischer Weise abspielt. Er beginnt seine Erzählung in einem kleinen Dorf im Süden der Ukraine, das beim ersten russischen Angriff nahezu vollständig zerstört wurde. Die Bewohner kehrten jedoch zurück und versuchten, inmitten der Ruinen weiterzuleben. Von diesem Punkt an wird das Buch von den Schrecken des Krieges, ukrainischem Leid und russischer Aggression beherrscht.

Unzweifelhaft ist, dass Wladimir Putin kein „lupenreiner Demokrat“ ist und die Invasion der Ukraine – bei aller Beteiligung der USA in der Vorgeschichte – einen klaren Akt der Aggression darstellt. Dennoch sollten wir uns, so schwer es fallen mag, einen schnellen Friedensschluss wünschen, auch wenn dies zwangsläufig große Kompromisse erfordern wird.

Wenn Snyder behauptet, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen muss, damit Amerika in einem halben Jahrhundert noch das „Land der Freien“ sein kann, stellt sich die Frage, ob er wirklich an die Möglichkeit eines solchen Sieges glaubt. Und was bedeutet „Sieg“ in diesem Zusammenhang? Eine russische Kapitulation im Stil der bedingungslosen deutschen Kapitulation von 1945? Ein solcher Ausgang wäre nur durch einen Putsch in Moskau denkbar, ein Szenario, das zwar von einigen Kreisen herbeigesehnt wird, aber derzeit wenig wahrscheinlich erscheint.

Snyder warnt eindringlich davor, dass ein Scheitern der Ukraine ihre Verbündeten schwächen und Despoten weltweit ermutigen würde, neue Kriege zu beginnen. Doch diese Argumentation erinnert unweigerlich an die Dominotheorie, die einst als Rechtfertigung für den Vietnamkrieg diente – ein Krieg, der wie viele andere amerikanische Interventionen im Namen der Freiheit geführt wurde, letztlich aber das Gegenteil bewirkte.

Das mag als düsterer und wenig optimistischer Schluss einer Rezension über ein so anregendes Buch erscheinen. Doch so wie Snyder liegt auch mir das Wohl der Freiheit am Herzen. Ich teile seinen Abscheu vor den Verbrechen der Vergangenheit und Gegenwart. Aber ich kann seinen Optimismus für die Zukunft nicht vorbehaltlos teilen.

Wie fragil Freiheit sein kann, haben uns die jüngsten Ereignisse während der Corona-Pandemie vor Augen geführt. Über Nacht wurden weltweit Freiheits- und Bürgerrechte eingeschränkt, und die politisch gewünschte Meinung wird heute zunehmend auf Kosten einer freien Debattenkultur durchgesetzt.

Freiheit, einst ein edler Begriff, hat sich inzwischen zu einem „Wieselwort“ entwickelt, wie es Theodore Roosevelt nannte – ein Begriff, so dehnbar wie ein Seesack, in den jeder hineinpackt, was ihm beliebt.




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Veröffentlicht am 8. OKtober 2024