Buchkritik -- Eberhard Straub -- Der Wiener Kongress

Umschlagfoto, Eberhard Straub, Der Wiener Kongress, InKulturA Es ist erstaunlich, wie schnell in letzter Zeit vermeintlich in Beton gegossene historische Fakten, oder sollte man nicht besser von ideologisch fixierten Fakten sprechen?, revidiert werden und den Blick frei machen für Tatsachen, die auch jede noch so bemühte Festlegung auf politisch erwünschte Ergebnisse über den Haufen werfen.

So war Wilhelm II. nicht der Blut saufende Kriegstreiber, zu den ihn ideologisch motivierte Historiker gemacht haben, Deutschland nicht der Alleinschuldige am Ersten Weltkrieg und auch der Wiener Kongress nicht, wie es noch heute in den Schulen unterrichtet wird, ein Hort reaktionärer Kräfte, der das Rad der Zeit zurückdrehen wollte und die "Errungenschaften" der Französischen Revolution aus purer Lust an politischer Unterdrückung zunichte machen wollte.

Der Historiker Eberhard Straub fegt in seinem Buch "Der Wiener Kongress" die zementierte Meinung, die vom 18. September 1814 bis 9. Juli 1815 in Wien tagende Friedenskonferenz der europäischen Großmächte England, Preußen, Österreich, Rußland und Frankreich sei ein Hort finsterer Reaktion gewesen, dessen Ziel in der Unterdrückung der europäischen Völker bestand, beiseite

Die glorreiche Französische Revolution, so die bis heute gelehrte Meinung, brachte Europa die Freiheit, die jetzt von den finsteren Teilnehmern des Wiener Kongresses wieder durch die die Freiheit unterdrückende Restauration der monarchistischen Welt zunichte gemacht werden sollte.

Straub beginnt seine Untersuchung mit der Französischen Revolution, die ganz Europa mit im Namen der Freiheit geführten Kriegen überzog und erst mit dem Einmarsch der Verbündeten am 31. März 1814 in Paris zu einem Ende kam. Hier wurde der Grundstein für den in Wien folgenden Kongress gelegt, dessen Ziel es war, einen gesamteuropäischen Vertrag nach Vorbild des Westfälischen Friedens von 1648 abzuschließen. Die Grundvoraussetzung dafür bestand in dem Bemühen, alle Souveräne an einen Tisch zu bringen - auch Frankreich, das trotz seiner Niederlage als gleichberechtigter Partner an den Verhandlungstisch gebeten wurde.

Durch das Vertragswerk sollte in Europa ein Gleichgewicht der Kräfte entstehen, das in Zukunft verhindern sollte, dass eine der Großmächte England, Preußen, Rußland, Österreich oder Frankreich ein politisches und militärisches Übergewicht erhält. Um den aufkommenden Nationalstaatsgedanken - einer der Gründe für die Kriege des 19. Jahrhunderts - einzudämmen, war es notwendig, die Monarchie zu stärken und der "Balkanisierung" Europas, inszeniert durch die Idee des Nationalstaats, entgegenzuwirken. Das hat, zumindest bis 1919, auch funktioniert.

Der Wiener Kongress war, so Eberhard Straub, die letzte Gelegenheit der europäischen Mächte in Europa aus eigener politischer Kraft Ordnung und Sicherheit herstellen zu können, bereits 1919 war es mit dem Vertrag von Versailles damit vorbei. So schreibt Straub: "Erstmals seit 1814 erwiesen sich die europäischen Staaten als unfähig zum Frieden untereinander. Den Endsieg konnten weder die Alliierten noch die Mittelmächte aus eigener Kraft erringen. Beide verstanden dies jedoch nicht als dringenden Hinweis, sich zu verständigen, vielmehr suchten sie außereuropäische Mächte für einen Siegfrieden in Europa zu interessieren. [...] Europa begab sich damit zum ersten Mal in Abhängigkeit von der Welt und verzichtete darauf, Herr seiner eigenen Welt zu sein und deren Ordnung selbständig zu bestimmen."

Der seit 1919 neue Mitspieler im Konzert der internationalen Politik, die USA, haben dann auch mit dem von ihnen geschaffenen, politisch jedoch äußerst ungenauen Begriff des "Selbstbestimmungsrechts der Völker" die "Balkanisierung" Europas betrieben, die den Kontinent bis heute tief gespalten hat.

Noch einmal Eberhard Straub: "Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, verbunden mit dem Recht einer Nation auf ihnen Nationalstaat [...], war für die europäischen Verhältnisse vollkommen ungeeignet und konnte keine Stabilität der Staaten und ihrer Beziehungen untereinander bewirken. Aus diesem Grund hatte der Wiener Kongress jede Berufung auf ein solches Recht der Völker verworfen. Die vielen Nationen in Europa überlebten und entfalteten sich seit jeher in staatlichen Zusammenhängen, die übernational waren. Katalanen, Basken, Wallonen, Böhmen, Mährer, Kroaten, Finnen, Polen, Ukrainer und viele andere vermochten ganz unabhängig von dem Staat, zu dem sie gehörten, ihre Nationalität zu bewahren."




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Veröffentlicht am 19. April 2015