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Der Begriff des Streitens, so wie ihn der Duden definiert, beschreibt einen „hitzigen Wortwechsel, oft in Handgreiflichkeiten endend.“ Streit erscheint hier als das letzte Mittel, das zum Einsatz kommt, wenn Argumente versagen, wenn der „herrschaftsfreie Diskurs“ – jener idealisierte Raum der Verständigung, den Habermas prägte, aber der selbst nicht frei von subtilen Überlegenheitsgesten war – scheitert. Denn in der Theorie des herrschaftsfreien Diskurses gab es immer jemanden, der „recht“ hatte, der zwangsläufig die richtige Position vertrat, während die andere Seite auf verlorenem Posten stand. Wenn die Dialogpartner sich auf keinen Kompromiss einigen können, wenn die Positionen so stark verhärten, dass ein wechselseitiges Verstehen gänzlich unmöglich wird, bleibt der Streit oft als letzter Ausweg.
Svenja Flasspöhler argumentiert in ihrem Essay, dass Streit vor allem eines ist: ein Kampf. Ein Machtkampf zwischen Kontrahenten, die beide fest davon überzeugt sind, auf der richtigen Seite zu stehen und diese Überzeugung mit allen verfügbaren rhetorischen Mitteln zu verteidigen. Dabei geht es nicht nur um das Ringen um Wahrheit oder Gerechtigkeit, sondern um die Selbstbehauptung im intellektuellen und emotionalen Raum. Der Verlierer – und dies ist entscheidend – verliert nicht nur den Streit, sondern auch einen Teil seines Selbstwertgefühls. Der Sieger hingegen sonnt sich in der Glorie seines Triumphs, eine Glorie, die sich aus Überlegenheit speist und die Positionen der unterlegenen Partei oft noch weiter verhärtet. Hier zeigt sich eine allzu menschliche Dynamik: Der Stachel der Niederlage bleibt tief verankert und fordert irgendwann Satisfaktion.
In einer offenen Gesellschaft, in einer lebendigen Demokratie, ist Streit jedoch unverzichtbar. Er bildet die Grundlage für eine Diskurskultur, die wiederum für das soziale und politische Zusammenleben essenziell ist. Ohne die Fähigkeit, kontroverse Themen auszutragen, könnten gesellschaftliche Debatten leicht in Gleichgültigkeit oder in autoritären Strukturen erstarren. Zwischen den theoretischen Polen eines Carl Schmitt, der das politische Feld als ein Freund-Feind-Schema interpretiert, und eines Jürgen Habermas, der den herrschaftsfreien Diskurs postuliert, plädiert Flasspöhler für den Streit als transformative Kraft. Gerade weil er oft hart und unerbittlich geführt wird, hat Streit das Potenzial, festgefahrene Denkweisen aufzubrechen und Raum für neue Ideen zu schaffen. Diese können wiederum positive gesellschaftliche Veränderungen anstoßen.
Die Autorin macht sich für ein „konstruktives Streiten“ stark, das in ihrem Buch durch persönliche Erfahrungen untermauert wird. Sie greift dabei auch auf prägende Episoden ihrer Kindheit zurück und schärft ihren Blick durch ihre gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit jenen, die fest davon überzeugt sind, „auf der richtigen Seite“ zu stehen und im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Der intellektuelle Konflikt wandelt sich schnell zum persönlichen Krieg. Aus Diskurspartnern werden Feinde, die es, so glauben die Selbstgerechten, mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Soziale Ausgrenzung, der Versuch, Karrieren zu zerstören, und nicht selten die Anwendung psychischer oder sogar physischer Gewalt werden zu legitimen Mitteln im Kampf gegen unliebsame, weil nicht dem Zeitgeist entsprechende, Meinungen. Gerade in den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Debatten zeigt sich dies verstärkt, wenn selbst rechtlich zulässige, „nicht strafbare“ Äußerungen sanktioniert werden sollen. Flasspöhlers eigene Erfahrungen, etwa ihre Zeit beim Deutschlandfunk, sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich und lesen sich wie ein Kommentar zu den Mechanismen der modernen Cancel Culture.
Für Svenja Flasspöhler bedeutet Streitkultur etwas anderes. Sie fordert eine Rückbesinnung auf den Diskurs, ohne die Angst vor der Konfrontation. Sie hat recht: Das Wegducken ist keine Alternative, so bequem es auch scheinen mag. Nur durch mutiges, durchaus auch kontroverses Streiten lässt sich der Intoleranz der vermeintlich Toleranten etwas entgegensetzen. „Streiten bis aufs Messer“ – selbstverständlich symbolisch gemeint – bleibt der einzige Weg, um die demokratische Kultur der Meinungsfreiheit zu verteidigen. Und ja, das versteht sich doch von selbst, oder?
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 21. Oktober 2024