```

Buchkritik -- Rebekka Frank -- Stromlinien

Umschlagfoto, Buchkritik, Rebekka Frank, Stromlinien, InKulturA Handlungen in der Vergangenheit haben Folgen für die Gegenwart. Dieser einfache Satz fängt das zentrale Paradox ein, das der Roman „Stromlinien“ in ebenso klaren wie eindringlichen Bildern ausleuchtet: Wie sehr unser heutiges Denken, Handeln und Fühlen vom Gerüst längst getroffener Entscheidungen geprägt wird. Schon in den ersten Kapiteln zeigt die Autorin auf, dass jede Figur, jeder Handlungsstrang untrennbar verwoben ist mit den Narben und Errungenschaften ihrer Vorgeschichte. Nichts geschieht aus dem Nichts, selbst scheinbar banale Ereignisse setzen Kausalketten in Gang, die stetig weiterwirken und uns manchmal erst Jahre später einholen.

So auch der 1. August des Jahres 1923, als Gunnar, der spätere Urgroßvater von Enna und Jale, die bei ihrer Grußmutter in den Elbmarschen leben, einen Diebstahl von Äpfeln begeht. Seine Verhaftung und die Verbüßung der Strafe auf der Gefängnisinsel Hahnöfersand, eine Einrichtung mit reformpädagogischen Ansatz, sind die Auslöser für weit in der Zukunft liegende Ereignisse, die sich zu einem dramatischen Finale entwickeln.

Die Schwestern Enna und Jale könnten in ihrem Wesen kaum weiter voneinander entfernt sein: Enna, selbstbewusst und stets unverblümt in Wort und Tat, steht im scharfen Kontrast zu ihrer zurückhaltenden Schwester, die sich oft im Schatten jener Stärke bewegt. Beide sehnen sich doch gleichermaßen nach dem Tag, an dem ihre Mutter Alea endlich aus der Haft in Hahnöfersand entlassen wird, einer Haft, die sie infolge einer jugendlichen Torheit büßen musste, die das Gericht im Sog der RAF-Hysterie als Terrorakt wertete.

Je näher der ersehnte Entlassungstermin rückt, desto größer wird Ennas Unruhe und dann verschwinden sowohl Alea als auch Jale spurlos. Entschlossen, ihre Mutter und ihre Schwester zu finden, begibt sich Enna auf eine Odyssee, die sie unweigerlich an ein lange gehütetes Familiengeheimnis heranführen wird. Am Tag von Aleas geplanter Rückkehr kommt es zudem zu einem folgenschweren Bootsunglück, bei dem ein Mann sein Leben verliert; sogleich fällt der Verdacht auf die entlassene Gefangene, und die Polizei nimmt die Ermittlungen auf.

In kunstvollen Rückblenden werden wir Zeugen eines Lebenspfads, der alles andere als geradlinig verläuft. Ennas Fragen, ausgelöst durch das rätselhafte Verschwinden ihrer Mutter und Schwester, mehren sich, doch Großmutter Ehmi verweigert vorerst jede Erklärung und hält stur an ihrer Schweigsamkeit fest.

Parallel spinnt Rebekka Frank historische Katastrophen in den Erzählverlauf: den Untergang der „München“, eines Hapag‑Lloyd‑Containerschiffs auf der Fahrt von Bremerhaven nach Savannah, das am 12. Dezember 1978 nach einem letzten Notsignal sank, ohne Überlebende zu hinterlassen, ebenso wie das Barkassenunglück im Hamburger Hafen am 6. Juli 1984, bei dem eine Kollision mit einem vollbeladenen Binnenschiff 19 Menschen das Leben kostete. Beide Ereignisse verweben sich kunstvoll mit dem dunklen Geheimnis, das die Familie jahrzehntelang bewahrte.

Rebekka Frank demonstriert mit sprachlicher Präzision und psychologischem Feingefühl, dass Rückblicke nicht bloß trügerische „Illusionen einer nostalgischen Sehnsucht“ sind, sondern Wegweiser für unser gegenwärtiges Handeln. Drei Leitmotive durchziehen den Roman: die narrativ konstruierte Kausalität, die moralische Verantwortung der Figuren und die Frage, ob der Text als Mahnung oder Einladung zu verstehen ist, die eigene Vergangenheit bewusst zu reflektieren. Am Ende drängt nicht nur die literarische, sondern die existentielle Frage: Wie wollen wir unsere Gegenwart gestalten, wenn jeder Schritt Spuren in der Zukunft hinterlässt?

Dem tragischen und bis zuletzt undurchsichtigen Familiendrama stehen die naturnahen Beschreibungen der Elbmarsch gegenüber, jenen Weiten, in denen Enna immer wieder Zuflucht sucht; nicht nur vor ihrer Geschichte, sondern auch vor der Enge ihrer Umgebung, insbesondere vor den Blicken ihrer Mitschüler. Die Elbmarsch, ein intaktes und zugleich gefährdetes Ökosystem, fungiert bei Frank als tonal beständiger „Basso Continuo“, der die mitunter sprunghaften Kapitel auf einem soliden, beruhigenden Fundament verankert.

„Stromlinien“ ist ein intensiver Roman, der immer wieder zu einer ruhigen, geradezu meditativen Diktion zurückfindet und dabei weit mehr als eine bloße Familiengeschichte erzählt: Nebenbei verhandelt er universelle Themen wie Schuld, Reue und Verantwortung und lädt den Leser ein, über die eigene Biografie neu zu reflektieren.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 18. Mai 2025