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In seinem Roman „Von Norden rollt ein Donner“ malt Markus Thielemann ein eindrucksvolles und vielschichtiges Bild der norddeutschen Provinz, in der die Schicksale mehrerer Generationen miteinander verwoben sind. Er erzählt die Geschichte des jungen Jannes, der mit seiner Familie in der Lüneburger Heide eine Schafzucht betreibt – eine Tätigkeit, die weit entfernt ist von jeglicher Romantisierung und die wenig Raum für Reichtum oder geregelte Arbeitszeiten lässt. Vielmehr ist es eine Arbeit, die das Leben formt, ein Gewerbe, das die Menschen untrennbar mit der rauen Natur verbindet.
Thielemann beschreibt Jannes als einen jungen Mann, der bereits in jungen Jahren in die festen Fesseln dieser Landschaft geraten ist: „Diese Landschaft hat ihm Stricke um die Glieder gelegt, mit neunzehn. Er ist der angebundene Bock, der hier am Rande seiner Weide steht und nicht weiterkann.“ Diese kraftvolle Metapher illustriert das Gefühl der Enge, das Jannes in seiner Welt verspürt – er ist gebunden an den Hof, an die Tradition, an die Erde, die seine Familie seit Generationen bearbeitet.
Die geographische Lage des Hofes zwischen dem Truppenübungsplatz Munster und der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen symbolisiert dabei eine stete Präsenz der Vergangenheit, die schwer auf der Familie lastet. Drei Generationen leben und arbeiten hier zusammen, und obwohl es kaum zu offenem Streit kommt, schwebt die unterschwellige Spannung stets über den alltäglichen Verrichtungen. Konflikte werden selten direkt ausgetragen, sondern brodeln leise im Hintergrund, verstärkt durch äußere Einflüsse wie die Rückkehr der Wölfe in die Heide. Diese Tiere sind nicht nur ein Symbol für die Bedrohung des landwirtschaftlichen Lebensunterhalts, sondern auch Auslöser für politische und ökologische Diskussionen, die das fragile Gleichgewicht zwischen den Familienmitgliedern weiter belasten.
Wilhelm, der Großvater, ein Mann alter Schule, klammert sich verbissen an das Zepter und ist entschlossen, den Wölfen den Kampf anzusagen. Er sieht in ihnen eine Gefahr für die Schafherden und damit für das Fortbestehen des Hofes. Sein Sohn Friedrich, Jannes Stiefvater, wählt hingegen einen subtileren Weg und setzt auf diplomatische und politische Lösungen, um die Situation zu entschärfen. Inmitten dieser beiden unvereinbaren Standpunkte steht Sibylle, Jannes Mutter. Sie ist diejenige, die das fragile Gefüge der Familie zusammenhält und versucht, zwischen den Fronten zu vermitteln, während sie gleichzeitig die Härte des Schäferlebens meistert – ein Knochenjob, der unter allen Wetterbedingungen und zu jeder Jahreszeit unermüdlich erledigt werden muss. Die viel besungene Idylle der Schäferromantik, wie sie in der Volksmusik dargestellt wird, existiert hier nicht.
Über allem schwebt das Damoklesschwert der Krankheiten, die das Vieh bedrohen, und die akute Gefahr von Wolfsangriffen, die nicht nur in Jannes Familie, sondern auch in der gesamten Gemeinde für hitzige Diskussionen sorgt. Die Schäfer der Region fühlen sich von der Politik im Stich gelassen und im Kampf gegen die Wölfe alleingelassen.
Markus Thielemann gelingt es, diesen vielschichtigen Konflikt mit großer Eindringlichkeit zu schildern. Seine ruhige, fast lakonische Erzählweise verleiht den Schicksalen der Figuren eine tiefe Authentizität. Besonders in der Figur des Jannes spiegelt sich die Last der Familiengeschichte wider, die in seinen ohnmächtigen Fantasieanfällen ihren Ausdruck findet. Diese Szenen mögen zuweilen etwas ausufernd und unrealistisch erscheinen, doch sie weisen auf ein dunkles Geheimnis hin, das die Familie seit der Zeit des Nationalsozialismus belastet. Der Großvater war in jene düstere Epoche verstrickt, doch die einzige Person, die Licht in dieses Kapitel der Vergangenheit bringen könnte, Jannes Großmutter, hat sich in die Demenz zurückgezogen. Auch bei Friedrich zeichnen sich erste Anzeichen einer ähnlichen Krankheit ab, was die Spannungen zusätzlich verschärft.
„Von Norden rollt ein Donner“ ist jedoch weit mehr als nur ein Familien- und Heimatroman, der die Geschichte einer Schäferdynastie erzählt. Es ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Begriff „Heimat“, die sich nicht in den Klischees eines landläufigen Heimatromans verliert. Thielemanns prägnante und dennoch bildhafte Sprache eröffnet eine atmosphärisch dichte Erzählwelt, in der der Zwiespalt zwischen individueller Identität und familiärer Herkunft unaufdringlich, aber dennoch akzentuiert verhandelt wird. Der Roman fragt nach dem Ort des Einzelnen in der Welt, nach der Verankerung in der eigenen Geschichte, und zeigt auf, wie schwer es sein kann, sich von den Fesseln der Vergangenheit zu befreien.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 15. Oktober 2024