```

Buchkritik -- Emmanuel Todd -- Der Westen im Niedergang

Umschlagfoto, Buchkritik, Emmanuel Todd, Der Westen im Niedergang, InKulturA Der selbsternannte „Wertewesten“, wie ihn seine führenden Moralexporteure bezeichnen, hat seinen Zenit überschritten – und Emmanuel Todd hält die Grabrede.

In seinem Werk zeichnet Todd das Bild eines Westens im kulturellen und moralischen Niedergang, allen voran der Vereinigten Staaten. Er konstatiert den Zerfall protestantischer Werte, die einst als moralisches Fundament der westlichen Gesellschaften dienten, und sieht deren Ersatz durch, wie er es nennt, „nihilistische“ Ideologien – insbesondere radikale Gendertheorien –, die das gesellschaftliche Gefüge untergraben. Dieser tiefgreifende Wandel entfremde traditionelle Gesellschaften weltweit und unterminiere zugleich die Soft Power des Westens, dessen Werte zunehmend an globaler Strahlkraft verlieren.

Von besonderer Brisanz ist Todds wirtschaftliche Analyse: Er kritisiert die strategische Fehlentscheidung des Westens, große Teile seiner industriellen Basis auszulagern – ein Schritt, den er nicht nur als ökonomische Torheit, sondern als Teil eines umfassenderen Musters der Ausbeutung versteht. Russland hingegen, so Todd, habe es trotz widriger demografischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen vermocht, eine leistungsfähige industrielle Basis aufrechtzuerhalten. Vor allem in den Bereichen Maschinenbau und Rüstungsproduktion habe es sich als widerstandsfähig gegen westliche Sanktionen erwiesen und damit seine geopolitische Handlungsfähigkeit bewahrt.

Todd führt die Fehlkalkulationen des Westens auf eine eklatante Fehleinschätzung der eigenen globalen Position zurück. Das Unvermögen, Russland durch wirtschaftlichen Druck in die Knie zu zwingen, zeuge von einem fundamentalen Missverständnis der veränderten geopolitischen Realitäten. Er beobachtet, dass sich der globale Süden zunehmend von den normativen Ansprüchen des Westens abwendet, was in einer tektonischen Verschiebung der internationalen Allianzen münde.

Besonders scharf ist Todds Analyse des Ukraine-Konflikts. Er beschreibt die Ukraine als „gescheiterten Staat“ und bezeichnet die Versuche, Regionen wie den Donbass und die Krim zurückzuerobern, als „selbstmörderisch“. Die westliche Unterstützung für Kiew sei Ausdruck einer grundlegend verfehlten Strategie, die sich über tiefere kulturelle und geopolitische Realitäten hinwegsetze. Auch in diesem Kontext hebt Todd hervor, dass Russland – obgleich in der westlichen Rhetorik als Aggressor stilisiert – in Wahrheit eine Verteidigung seiner kulturellen und strategischen Interessen betreibe.

Über allem schwebt Todds These von der Hybris des Westens: Die Unfähigkeit seiner politischen Eliten, den eigenen Bedeutungsverlust zu akzeptieren, führe zu einer Reihe von strategischen Fehlschlüssen. Die westlichen Staats- und Regierungschefs hätten den Bezug zur Realität verloren und verharrten in einem Denken, das der multipolaren Weltordnung nicht mehr gerecht werde.

„Der Westen im Niedergang“ ist eine schonungslose Abrechnung mit den Illusionen der westlichen Führungsschichten und eine radikale Infragestellung des derzeitigen globalen Machtgefüges. Mit seiner kontroversen Analyse – von der Dekonstruktion westlicher Werte über die Kritik an der amerikanischen Führungsrolle bis hin zu seiner Einschätzung des Ukraine-Krieges – wird Todd zweifellos heftige Debatten entfachen. Sein Buch ist zugleich ein Weckruf: Es fordert ein grundlegendes Umdenken in westlichen Strategien und eine ehrliche Auseinandersetzung mit den tektonischen Verschiebungen der globalen Ordnung.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 19. November 2024