Buchkritik -- Michel Houellebecq -- Vernichten

Umschlagfoto, Buchkritik, Michel Houellebecq, Vernichten, InKulturA Der Ökonomie, zumal der französischen, geht es relativ gut. Das ist das einzig Positive, das Paul, ein ausgelaugter Mitläufer, berichten kann. Kulturell und politisch geht es rasant abwärts und am historischen Horizont taucht mit China die zukünftig bestimmende globale Macht auf.

„Vernichtung“ soll, so dessen Autor Michel Houellebecq, sein letzter großer Roman sein. Da passt es gut, dem sterbenden Westen, dessen schleichender Tod, so die Überlegung Pauls, bereits im frühen 20. Jahrhundert, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte, resigniert zuzuschauen. Und so liegt über dem Werk dann auch eine Melancholie der gesellschaftlichen Auflösung, die durch hohe Scheidungsquoten, geringe natürliche Fertilität, die vermehrt durch künstliche Befruchtung ersetzt wird, und, was der eigentlich verantwortliche Faktor des selbst verschuldeten Abstiegs ist, durch die Weigerung der gebildeten Klasse, Führung zu übernehmen, vorangetrieben wird.

Frankreich befindet sich im Wahlkampfmodus und die Welt wird zusätzlich durch Attentate einer nicht zu identifizierenden Gruppe erschüttert. Auch ein Video, das die fiktive Hinrichtung des möglichen Kandidaten Bruno Juge darstellt, sorgt eher für Ratlosigkeit und Verwirrung als den Willen zur konsequenten Aufklärung.

Was im politischen und gesellschaftlichen Makrokosmos längst als verlorene Bastion behandelt wird, ist im familiären Mikrokosmos, das muss Paul fast wider Willen feststellen, das einzige Bollwerk, das sich verzweifelt und vergeblich gegen den Niedergang zur Wehr setzt und so staunt der mit den sonst eher derben Romanen Houellebecqs vertraute Leser, dass der Autor Zuflucht nimmt zu Religion und Familie als letzte Widerstandsnester gegen die bevorstehende Vernichtung westlicher Lebensart.

Paul, fest im inneren Zirkel der Macht etabliert und trotzdem weit entfernt von der wirklichen Macht, ist ein saturierter und zynischer Mitläufer, wie es sie in den Regierungsapparaten zahlreich gibt. Materiell saturiert, intellektuell eher Mittelmaß, lebt er in einer lieblosen Ehe, deren Partner sich erst nach einem Schlaganfall seines Vaters wieder näherkommen.

Seine Schwester ist eine gläubige Katholikin, die zusammen mit ihrem Mann eine harmonische Ehe führt. Sein jüngerer Bruder, tyrannisiert von seiner Ehefrau, eine frustrierte und erfolglose Journalistin – hier kommt einmal mehr Houellebecqs partielle Misogynie zum Ausdruck –, ist lebensunfähig und sein Selbstmord dürfte stellvertretend für den der westlichen Welt stehen.

Im Nachhinein werden vielen Autoren so etwas wie seismographische Fähigkeiten bei der Beurteilung und Einschätzung politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen angediehen. Bei Michel Houellebecq trifft es ohne Frage zu, denn seine in diesem Roman verarbeiteten Analysen des Ist-Zustands der westlichen Welt sind bestürzend, weil auf den Punkt gebracht. So verwundert es nicht, dass die Verantwortlichen der Anschläge nicht ausfindig gemacht werden. Man erhält sogar den Eindruck, dass der Willen zur Aufklärung nicht mehr vorhanden ist. Die Behördenmaschine arbeitet zwar noch, doch die Betreiber wissen anscheinend nicht mehr um ihre Funktion.

Nein, es gibt kein Happyend in diesem Endzeitroman – immerhin spielt er nur fünfzehn Jahre nach unserer Zeit – und auch für Paul, der sich langsam wieder seiner Frau emotional nähert, gibt es keine gelingende Zukunft. Prudence, Pauls Ehefrau, antwortet auf seine Bemerkung am Ende des Romans, ob es in unserer Macht liegt, die Dinge zu ändern, ganz lapidar: „Wir hätten wunderbare Lügen gebraucht.“

Gelingendes Leben eine Fiktion und Scheitern eine historische Konstante? Für Michel Houellebecq eine Tatsache.




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Veröffentlicht am 1. Februar 2022