Buchkritik -- Juli Zeh -- Über Menschen

Umschlagfoto, Buchkritik, Juli Zeh, Über Menschen, InKulturA Dora hält sich für eine trendige Großstadtpflanze. Der richtige Partner, die richtige Wohnung, die richtigen Freunde und der richtige Job. Alles Paletti? Mitnichten! Der Partner mutiert zum Ökofanatiker, die Wohnung wird zum Kriegsschauplatz, die Freunde, na ja und der sichere Job wird auf einmal prekär, weil von außen das Virus zuschlägt.

Dora will, muss raus aus der vornehmlich privaten Tretmühle, die einfach nicht mehr genug Luft zum Atmen lässt. Die Hündin Jochen der Rochen (sic) geschnappt und nix wie weg in die Brandenburger Landidylle. In Bracken steht ein Haus, mehr als etwas renovierungsbedürftig, mit reichlich Garten vor der Tür. Ein Schnäppchen, also schnell die Ersparnisse geplündert, Kredit aufgenommen und ab, nicht, wie weiland Conny Froboes es stimmig in dem alten Berliner Schlager trällerte, ins Strandbad Wannsee, sondern rein in die Streusandbüchse der Mark.

Dort angekommen, platzt schnell die Blase, die Filterblase der Vorurteile. Schön sortiert, gepflegt und in Schubladen abgelegt, ist hier Schlussverkauf angesagt. Alles muss raus. Die wir-und-die-anderen Mentalität, die wir-sind-besser Hybris und die scheinbar fest einbetonierten Denkschablonen derer aus dem hippen intellektuellen Großstadtbiotop.

In Bracken ist Schluss mit Coffee-to-go aus nachhaltig produzierten Ökobechern. Den bekommt man hier noch nicht einmal im viele Kilometer entfernten Einkaufszentrum, das man ohne Auto gar nicht erreichen kann, weil der öffentliche Nahverkehr einen großen Bogen um Bracken – und andere Dörfer – macht.

Was bleibt also übrig? Na klar, die Einsicht kommt schnell: Auch der Nachbar, Proksch, genannt Gote der Dorfnazi, ist ein Mensch, der auch so behandelt werden will – und zudem fährt er, ganz böse, einen Pickup-Truck mit, noch böser, Dieselantrieb. Überhaupt die Nachbarn! Gewöhnungsbedürftig für Dora, die bislang immer ähnlich tickende Charaktere um sich hatte. Austauschbar, obwohl unablässig Einzigartigkeit darstellend. Meinungskonform, weil Haltung vor Wissen und Erfahrung zu stehen hat.

Ganz entgegen dem Brackener Lebensgefühl. Doch was bedeutet hier Lebensgefühl? Mit dem allein kommt Dora nicht weiter, wenn es um die Bestellung des Gartens, das Anlegen eines Kartoffelbeets zur baldigen Selbstversorgung und die dringend benötigten Lebensmittel oder das notwendige Handwerkszubehör aus den weit entfernten Geschäften geht.

In Bracken ticken die Uhren anders, die Menschen übrigens auch. Dora lernt schnell, dass die handfesten Probleme der Provinz so gar nichts zu tun haben mit der egozentrisch-biotopischen Diskussion von hippen Besserverdienern über die Nachhaltigkeit von Stoffbeuteln im Vergleich mit Plastiktüten.

Juli Zeh unternimmt in ihrem neuen Roman genüssliche Seitenhiebe auf die scheinbare Besserwelt eines Großstadtmilieus, dass sich immer wieder selber feiert. Dabei verliert die Autorin jedoch nicht aus den Augen, dass die Flucht daraus nur gelingen kann, wenn, wie Dora es fast gegen ihren Willen, gegen ihre Konditionierung feststellen muss, der andere, das Gegenüber zuallererst als Mensch und dann erst als politisches Subjekt gesehen wird.

Klar ist Proksch ein Ekel, ein ausländerfeindlicher Kerl. Aber er ist auch ein begnadeter Schnitzer, der es versteht, die im Holz gefangenen Figuren zu befreien. Klar macht der andere Nachbar Sprüche, die wehtun. Aber er ist auch immer zur Stelle, wenn Dora Not an der Frau hat, wie andere Nachbarn übrigens auch – ohne viel zu fragen.

„Über Menschen“ ist vieles: Idylle, Drama und Sehnsuchtsroman. Juli Zeh versteht es, Widersprüche darzustellen, ohne sie auflösen zu müssen. Wer, wie die Autorin, über Menschen erzählt, über sie spricht, ohne über sie zu richten, der weiß, dass diese auszuhalten sind, wenn Kommunikation, wenn ein Miteinander funktionieren soll.

„Über Menschen“ ist ein Plädoyer für die Suche nach menschlichen Gemeinsamkeiten und stellt sich damit gegen den herrschenden Zeitgeist, der sich sowohl in Ab- und Ausgrenzung als auch in Kommunikationsverboten mit den angeblich falschen Menschen niedergeschlagen hat.

Ein mutiges und ein, um das im Literaturbetrieb leider inflationär benutzte Wort zu gebrauchen, bewegendes Buch. Für mich ohne Frage bereits jetzt einer der besten Romane dieses Jahres.




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Veröffentlicht am 8. Mai 2021