Buchkritik -- Michael Großheim -- Zeithorizont

Umschlagfoto, Michael Großheim, Zeithorizont, InKulturA Geschichte und Geschichtlichkeit sind in der aktuellen Eventkultur zu Fremdwörtern mutiert. Ein Diagnostiker des derzeitigen Zeitgeists kommt unweigerlich zu dem Schluss, dass sich die Wahrnehmung der Welt anscheinend nur noch auf die Gegenwart, auf den Augenblick und auf den jeweils sich abspielenden Moment beschränkt.

Dieses fehlende Geschichtsbewusstsein ist der Ausdruck einer Zeit, die sich selbst als außerhalb der Generationenfolge und damit herausgefallen aus der Geschichte betrachtet und darauf auch noch stolz zu sein scheint. Das Hineinleben in den Tag ist zu einer gesellschaftlich akzeptierten Attitüde geworden und das Lechzen nach dem jeweils Gegenwärtigen ist der letzte Ausdruck einer sich mehr und mehr dem Vergessen übereignenden Gesellschaft.

Ohne historisches Bewusstsein, ohne das Wissen um die Notwendigkeit der steten Erweiterung des Zeithorizonts ist keine funktionierende Gemeinschaft, kein Staat und keine Nation möglich und nur all zu gern macht die Politik sich daran, diesen temporalen Nihilismus zu fördern. So ist z. B. der Generationenvertrag, der ohnehin im öffentlichen Bewusstsein nur zwei Generationen umfasste, zu seinem Funktionieren jedoch drei benötigt, vom politisch-wirtschaftlichen Kartell sturmreif geschossen worden.

Michael Großheim hat sich in seinem Buch "Zeithorizont" mit dem Phänomen der aktuellen Zeitvergessenheit beschäftigt. Er nimmt dabei Anleihen bei einer Ideengeschichte, deren jeweilige Vertreter sich immer darüber im Klaren gewesen sind, dass Zeiten ohne Geschichtsbewusstsein Zeiten ohne Kultur darstellen. Nicht umsonst war für Jacob Burckhardt Barbarei ein Ausdruck von Geschichtslosigkeit.

Folgt man dem Autor, und es gibt gute Gründe das zu tun, dann sind wir wieder eingetreten in ein barbarisches Zeitalter. Nicht das Woher und Wohin des Zeithorizonts und das Bewusstsein von historischer Kontinuität steht im Fokus, sondern die naive Verliebtheit in den Augenblick, das bräsige Einrichten in der Gegenwart und das Verleugnen des Wissens, dass der Mensch ein Wesen ist, dass sich nur über seine Geschichtlichkeit definieren kann.

Michael Großheim hat ein im besten Sinne unmodernes Buch veröffentlicht, denn diejenigen, die sich in der "besten" aller Gegenwarten eingerichtet haben, haben längst vergessen, dass ohne historische Kontinuität, ohne das Wissen um einen erweiterten Zeithorizont, die Geschichte tatsächlich an ihr Ende gekommen ist.

Dabei ist doch gerade das aktuelle und bis zur Unkenntlichkeit missbrauchte Credo von der ökologischen Nachhaltigkeit ohne das Bewusstsein eines erweiterten Zeithorizonts weder denk- noch machbar. Das Großheim mit seinen Überlegungen auch eine Kritik an der herrschenden Politik des Augenblicks übt, versteht sich von selbst. "Ein Staat der Gegenwart, der Schulden macht, [...] und diese Mittel nur im Interesse der gerade Lebenden einsetzt, praktiziert streng genommen einen Generationen-Egoismus, der keine Rücksicht auf die Nachfahren nimmt."




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