Wir bestimmen, was erlaubt ist

Es gibt Momente, in denen ein Land gewissermaßen versehentlich in den Spiegel schaut und erschrickt. Nicht über die Pickel der Jugend oder die Falten des Alters, sondern über diese eigentümliche Doppelbelichtung, bei der sich moralischer Hochmut und staatstragender Pflichtwille überlagern wie schlecht kopierte Folien. Man sieht nicht mehr, was eigentlich Realpolitik ist und was moralische Jonglage, und genau in diesem goldglänzenden Nebel bewegen sich derzeit jene Stimmen, die bestimmt haben wollen, welche Empörung erlaubt, welche geduldet und welche ab sofort unerwünscht ist.

Im konkreten Fall geht es, wie so oft, um eine Gruppe, die man landläufig als „Schüler“ bezeichnet. Früher waren das Kinder, dann Generation Z, dann Klima-Avantgarde, jetzt wieder Schüler. Interessant, wie flexibel Begriffe werden, je nachdem, was sie gerade leisten sollen. Dieselben Jugendlichen, die vor wenigen Jahren noch unter ehrfürchtig gesenkten Stirnen in den Abendnachrichten präsentiert wurden, während sie jeden Freitag selbstverliebt die Schule mieden, um das Weltklima eigenhändig zu retten, stehen nun plötzlich unter Verdacht: Sie wollen sich erdreisten, nicht gegen CO₂, sondern gegen die Wehrpflicht zu protestieren.

Der Kontrast könnte kaum herrlicher sein. Damals, im goldenen Zeitalter der schulpflichtfreien Moralpädagogik, wurden die Streiks nicht nur geduldet, sondern nahezu gefeiert. Schulschwänzen? Nein, nein, das war „politisches Engagement“, „Zivilcourage“, „ein notwendiges Zeichen der Jugend“. Wer dagegenhielt, war klimafeindlich, rückständig, ein Feind der Zukunft. Die Direktionen winkten in vielen Fällen lässig durch, Lehrer sprachen in Interviews von „wichtigem Zeichensetzen“, und die Medien rotierten zwischen zartem Lobgesang und sanfter Anbetung.

Doch nun, o Ironie der Geschichte, demonstrieren dieselben Kinder gegen etwas, das der politischen Wetterlage gerade nicht behagt: gegen die Aussicht, demnächst als Kanonenfutter für eine europäisch geölte Sicherheitsarchitektur dienen zu dürfen. Und plötzlich erinnert man sich wieder an die alte Tante Schulpflicht, die für gewöhnlich in der Besenkammer stand, eingeschlossen unter Staub und vergessenen Paragraphen. Nun aber wird sie hervorgeholt, abgestaubt, poliert, und mit strengem Blick auf den Tisch geknallt.

„Man könne das nicht dulden“, sagt man. „Man dürfe nicht“, murmelt man. Und plötzlich hat man wieder eine pädagogische Ader, die mit eiserner Konsequenz den Schülern Dämonen in Form von Fehlzeitenformularen entgegenschleudert.

Ach, Demokratie! Wie schön wärst du, wenn du endlich lernen würdest, dass Meinungsfreiheit keine Menükarte ist, die sich der Kellner der öffentlichen Moral nach Bedarf zusammenstellt.

Es geht ja nicht einmal darum, ob man die Wehrpflicht nun gut oder schlecht findet. Es geht um das Gedächtnis, genauer: den Mangel desselben. Während Klima-Schulstreiks seinerzeit als wichtigster Beitrag junger Menschen zur Weltrettung präsentiert wurden, handelt es sich jetzt, welch wunderbares Wort, um „unentschuldigtes Fernbleiben vom Unterricht“. Die gleiche Handlung, völlig neue moralische Bewertung. Das ist nicht nur doppelte Standards, das ist choreografierte Dissonanz. Und die wird mit einer Selbstverständlichkeit verkündet, dass es selbst einem gut geölten Propagandisten der 60er Jahre die Schamesröte ins Gesicht treiben würde.

Natürlich erklären die immergleichen Sprecher, die Meinungsfreiheit sei weiterhin unantastbar. Man dürfe demonstrieren! Selbstverständlich! Aber bitte außerhalb der Unterrichtszeiten. Dass man dann keine Öffentlichkeit hat, keine Masse, kein Momentum, ach, das ist vollkommen egal. Hauptsache, die brave Ordnung bleibt bestehen. Und Ordnung heißt in diesem Kontext: „Wir bestimmen, wann ihr protestiert und wogegen.‟ Und das nennt sich dann Beteiligung junger Menschen an der Demokratie…

Herrlich. Eine Demokratie, in der man mitmachen soll, solange man nicht stört. Eine Jugend, die politisch sein darf, solange ihre politische Haltung als dekoratives Accessoire zur Regierungslinie taugt.

Am schönsten aber sind die Kommentare der medialen Einheitsfront. Da wird erklärt, man müsse „differenzieren“. Dass die „Bedrohungslage“ eine andere sei. Dass es „unerlässlich“ sei, junge Menschen für die Landesverteidigung zu sensibilisieren. Und, mein Favorit, dass ein Protest gegen die Wehrpflicht „zu komplex“ sei, um von Schülern verstanden zu werden.

Dass dieselben Schüler vorher als moralische Speerspitze der Klimawissenschaft gefeiert wurden, ist dabei offenbar so irrelevant wie die Existenz von Sommerferien.

Doch vielleicht liegt darin die reinste Form der Satire: Ein Staat, der junge Menschen auffordert, Mündigkeit und Engagement zu zeigen, aber nur in einem abgesteckten, politisch korrekt bepflockten Bereich. Eine Medienlandschaft, die wie ein Kirchenchor die gleiche Melodie singt, mal höher, mal tiefer, aber immer die gleiche Tonart.

Und Schüler, die plötzlich feststellen, dass sie nicht mehr die Helden sind, sondern die Störenfriede. Nicht mehr die moralische Avantgarde, sondern die Unruhestifter. Nicht mehr die Zukunft, sondern das Problem.

Die Wahrheit ist natürlich simpel: Die Empörung über den Wehrdienst trifft nicht ins Narrativ. Denn es gibt nichts Unangenehmeres für eine politische Führung, als wenn die Jugend aufsteht und nicht nur gegen abstrakte Emissionen protestiert, sondern gegen staatliche Herrschaft über ihre Körper, ihre Zeit, ihre Existenz. Wer gegen Emissionen protestiert, ist idealistisch. Wer gegen die Wehrpflicht protestiert, ist politisch, und das mag man nicht.

Und so dreht sich das Karussell der moralischen Erlaubnis

Was gestern Tugend war, wird heute Vergehen.

Was gestern Pflicht war, wird heute Verweigerung.

Was gestern gelobt wurde, wird heute sanktioniert.

Doch keine Sorge: Man hat längst dafür gesorgt, dass niemand den Bruch bemerkt. Die Chorproben der Medien verlaufen täglich, die Tenöre sind geübt, die Altstimmen weichgewaschen, und die Basslinie sorgt für die nötige Schwere. Gemeinsam singen sie das neue Kirchenlied der Republik:

„Wir bestimmen, was erlaubt ist.“

Ein Satz, so schlicht, so klar, so unironisch ehrlich, dass man ihn fast bewundern könnte.

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