Es war ein Sonntag wie jeder andere, nur dass diesmal nicht über Brötchen oder Bundesliga entschieden wurde, sondern über die Zukunft. Genauer gesagt: über die Zukunft Hamburgs, Europas und, wenn man den Pathos einiger Aktivisten glauben darf, gleich der ganzen Menschheit. Die Hansestadt hat nämlich beschlossen, fünf Jahre früher klimaneutral zu werden. Statt 2045 also schon 2040. Fünf Jahre! Das ist ungefähr die Zeit, die eine deutsche Behörde braucht, um eine Wärmepumpe zu genehmigen. Man merkt: Die Hamburger haben Mut. Oder keine Ahnung.
Man kann ihnen das nicht verübeln. Die Idee klingt ja großartig. Klimaneutralität! Eine Stadt, die so tut, als könne sie mit ein paar Solardächern und Lastenrädern das Weltklima retten. Das klingt gut, das klingt nach Moral, nach Verantwortung, nach Zukunft. Dass diese Zukunft in der Realität vor allem aus Baustellen, Fahrverboten, Energiemangel und Steuererhöhungen bestehen wird, interessiert in der Euphoriephase niemanden. Das kommt später. Nach dem Applaus.
Denn der Volksentscheid war eine Art moralisches Festival: endlich darf der Bürger wieder etwas Gutes tun, ohne selbst ins Schwitzen zu kommen – außer vielleicht in der langen Schlange vor dem Wahllokal. Man kreuzt ein Kästchen an, und schwupps, fühlt man sich wie Greta mit Hafenblick. Der Sieg der Tugend ist selten so einfach. Es ist die neue Form des Beichtstuhls: Ein Kreuzchen, und die Sünde der Bequemlichkeit ist vergeben.
Dabei hätte man ahnen können, dass das Ganze in die Kategorie „gut gemeint, schlecht durchdacht“ fällt. Die Hamburger sollen also in 15 Jahren klimaneutral leben. 15 Jahre! In einer Stadt, die es seit 20 Jahren nicht schafft, den Elbtower fertigzubauen, die U-Bahn pünktlich fahren zu lassen oder den Autoverkehr in der Mönckebergstraße zu entzerren. Aber natürlich – CO₂-neutral wird sie, und zwar ganz bald. Nur noch ein paar Milliarden Euro, ein paar politische Wunder und ein paar technische Lösungen, die noch gar nicht existieren, dann ist alles gut.
Man könnte lachen, wäre es nicht so traurig. Denn hier zeigt sich das Grundproblem unserer Zeit: Der Bürger liebt die Illusion mehr als die Realität. „Klimaneutral bis 2040“ – das klingt so wunderbar, so rein, so moralisch überlegen. Kein Politiker kann da Nein sagen, ohne als herzloser Kohlenlobbyist dazustehen. Und kein Bürger wagt zu fragen, wie das funktionieren soll, ohne sich sofort als Klimaskeptiker verdächtig zu machen. Also nicken alle brav, murmeln „Ja, das ist wichtig“, und hoffen, dass irgendwer anders es schon irgendwie macht.
Die Ahnungslosemacht funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Wer keine Lösung hat, erhöht das Ziel. Wenn man 2045 nicht erreicht, nimmt man eben 2040. Das ist wie beim Abnehmen: Wer das Gewichtsziel verfehlt, setzt es einfach niedriger, um sich moralisch wach zu halten. Es ist die politische Version der Diätlüge – mit gleichem Ausgang: Frust, Rückfälle, Schuldgefühle und jede Menge heißer Luft.
Natürlich hat niemand etwas gegen Klimaschutz. Das Problem ist nicht der Zweck, sondern die Heiligsprechung der Mittel. Klimaneutralität wird zur Religion, deren Dogmen niemand mehr infrage stellen darf. Und wer es doch tut, ist sofort ein Ketzer. Die Priester dieser neuen Kirche tragen nicht Schwarz, sondern Grün, sprechen von CO₂-Budgets statt von Sünden und verteilen keine Hostien, sondern Wärmepumpenförderungen. Und wie in jeder Religion gilt: Glaube ersetzt Wissen.
Man stelle sich vor, die gleichen Bürger müssten den Umbau selbst planen. Plötzlich säßen sie über Tabellen mit Kosten, Handwerkerkapazitäten, Baustellenplänen, Netzstabilitätsproblemen und dem unvermeidlichen Fachkräftemangel. Dann würde das moralische Leuchten schnell dem kalten Schweiß weichen. Aber zum Glück ist das ja nicht nötig. Das macht „die Politik“. Und die wiederum tut das, was sie am besten kann: Versprechen, was sie nicht liefern kann, und verkünden, dass alles gut läuft, solange man nur genügend Berichte schreibt.
Apropos Berichte: Hamburg will nun jährlich prüfen, ob es auf Kurs ist. Klingt gut, bedeutet aber in Wahrheit, dass man jedes Jahr neue Papiere produziert, auf denen steht, dass man leider noch nicht ganz so weit ist, aber immerhin gute Fortschritte beim Planen gemacht hat. Planen ist die neue Tat, Fortschritt die neue Form der Stagnation. Und während man sich in Gremien und Arbeitsgruppen verheddert, drehen die Windräder sich weiter – allerdings meist außerhalb der Stadtgrenzen, weil innerhalb niemand welche will.
Denn das ist der nächste Punkt: Die Bürger wollen Klimaneutralität, aber bitte ohne Veränderung ihrer Bequemlichkeit. Keine neuen Windräder vor der Tür, keine Baustellen in der Straße, keine höheren Mieten, keine Einschränkungen beim Autofahren. Das ist ungefähr so, als würde man Diät halten wollen, ohne auf Kuchen zu verzichten. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt – und die Vernunft meistens zuerst.
Am Ende bleibt das, was in Deutschland immer bleibt: ein moralisches Etikett und eine Rechnung, die andere zahlen. Wer in Hamburg eine alte Wohnung hat, darf bald mit energetischen Sanierungspflichten rechnen. Wer sie nicht bezahlen kann, fliegt raus. Aber hey – das Klima freut sich! Das CO₂ der Verdrängten zählt schließlich nicht mehr in Hamburgs Bilanz.
Und während sich die Stadt in neue Zielvorgaben verheddert, sitzt der Rest der Republik amüsiert in der Loge und schaut zu, wie sich die moralische Selbstüberhöhung in eine praktische Sackgasse verwandelt. Es ist ein Experiment, bei dem man die Versuchstiere selbst abstimmen ließ.
Vielleicht ist das ja die eigentliche Ironie: Hamburg will die Stadt der Zukunft sein – und liefert damit ein Beispiel dafür, wie man sich mit dem guten Gewissen selbst hypnotisiert. Statt realistische Transformationspläne zu machen, ersetzt man sie durch Zahlenmagie. Statt sich mit sozialen Folgen auseinanderzusetzen, beschwört man die moralische Notwendigkeit. Statt Kompetenz herrscht Gesinnung. Und die Gesinnung hat bekanntlich keine Ahnung, aber immer recht.
Man darf also gespannt sein. Vielleicht wird Hamburg 2040 tatsächlich klimaneutral. Vielleicht fliegt bis dahin aber auch die Elbe. Vielleicht haben wir dann längst gemerkt, dass Klimaneutralität kein Ziel, sondern ein Prozess ist – und dass dieser Prozess von Ahnung getragen werden sollte, nicht von Euphorie. Vielleicht. Aber wahrscheinlich wird bis dahin ein neuer Volksentscheid fordern, es doch bitte bis 2035 zu schaffen.
Denn so funktioniert die Demokratie im Zeitalter der Selbstüberforderung: Die Bürger glauben, sie bestimmen die Zukunft – und merken nicht, dass sie sie gleichzeitig verfehlen.
Am Ende bleibt das Licht aus. Nicht, weil es kein Strom mehr gibt, sondern weil niemand mehr versteht, wo der Schalter ist.