Wie Deutschland sich selbst versorgt
Es gibt Länder, die besitzen Öl. Andere haben Gold, seltene Erden oder wenigstens Tourismus. Deutschland dagegen hat Sozialleistungen. Über fünfhundert verschiedene, fein säuberlich sortiert, von der Mutterschutzkurzleistung bis zur Langzeitfördermaßnahme für strukturell Unterforderten. Ein Eldorado für Antragsteller, ein Labyrinth für alle anderen. Man stelle sich vor: Der Staat als überfürsorgliche Tante, die alles hat, aber nie genau weiß, wo sie es hingelegt hat.
Die Deutsche Bürokratie, dieses barocke Ungetüm aus Formularen und Nachweispflichten, hat sich im Laufe der Jahrzehnte zu einer Art Fürsorgekathedrale aufgebläht. Jedes Mosaikfenster, eine neue Leistung, jede Säule, eine Sonderregelung. Über allem wacht ein unsichtbares Dogma: Es darf niemand zu kurz kommen, selbst wenn dafür alle zu lange warten müssen. Und so türmen sich Leistungen, Hilfen, Unterstützungen, Zuschüsse, Nachzahlungen, Beihilfen, Entlastungen und Wohltaten wie Bauklötze in einem Kindergarten der guten Absicht. Nur dass dort wenigstens jemand aufräumt.
Man könnte meinen, das Ganze folge einem höheren Plan. Doch wer den Versuch unternimmt, ihn zu verstehen, landet unweigerlich in einer kafkaesken Spirale aus Zuständigkeiten, Formularen und Stichtagen. Für die Beantragung einer einzigen dieser Sozialleistungen braucht man mitunter mehr Nachweise als für den Erwerb einer Schusswaffe. Aber Sicherheit geht schließlich vor, vor allem die bürokratische.
Dabei war die Grundidee einmal edel. Man wollte Menschen in Not helfen, gesellschaftliche Teilhabe sichern, Armut lindern. Doch irgendwo zwischen Rentenversicherung und Windelzuschuss ist das Ideal in der Verwaltungsrealität verendet. Heute gleicht der Sozialstaat eher einem Selbstbedienungsladen mit verschlossenen Regalen: Alles ist da, aber man braucht den richtigen Schlüssel, und der liegt, versteht sich, in einem anderen Amt.
So entstehen Generationen von Antragsspezialisten, die ihre Energie weniger auf Erwerbsarbeit als auf die Optimierung ihrer Antragsstrategien verwenden. Der moderne Sozialbürger kennt seine Fristen wie andere ihre Lieblingsserien. Er jongliert mit Paragraphen, weiß, wann welche Leistung in welcher Kombination nicht anrechenbar ist, und könnte mit seinem Wissen mühelos eine mittelgroße Steuerkanzlei betreiben.
Dagegen stehen jene, die noch naiv glauben, sie könnten das System intuitiv verstehen. Sie begegnen der ersten Formularseite wie einem fremden Schriftsystem, hoffen auf Klartext und enden beim Ausdruck des “Ergänzungsblatts D zur Anlage Z3b”. Wer hier nicht spätestens nach dem dritten Versuch kapituliert, verdient eine Tapferkeitsmedaille und einen Bildungsgutschein für Verwaltungslyrik.
Die Krönung aber ist die moralische Selbstzufriedenheit, mit der das Ganze verteidigt wird. Deutschland hält sich gern für sozial ausgewogen, gerecht, solidarisch. Man verweist auf die Vielzahl der Leistungen, als sei die bloße Existenz einer Hilfe schon Beweis ihrer Wirksamkeit. Niemand fragt, ob das Dickicht der Zuständigkeiten die Bedürftigen nicht längst stranguliert hat. Wichtig ist nur, dass niemand behaupten kann, der Staat habe nichts angeboten.
Diese Logik gebiert Absurditäten von biblischem Ausmaß. Da erhält jemand eine Leistung, verliert sie aber, weil er eine andere bekommt, die wiederum verrechnet wird mit einer dritten, deren Antrag aber rückwirkend gestellt werden muss, jedoch nur, wenn man von der ersten Leistung bereits schriftlich Bescheid hatte. Eine symphonische Komposition des Wahnsinns, dirigiert von Paragrafenreitern, die stolz darauf sind, dass ihr System funktioniert, zumindest theoretisch.
Natürlich, es gibt auch Gewinner. Ganze Heerscharen von Verwaltungsangestellten, Beratern, Juristen und Sozialpädagogen, nicht zu vergessen, Zahnärzte, leben prächtig von der institutionellen Komplexität. Der Sozialstaat ist längst ein eigener Industriezweig geworden, dessen wichtigstes Produkt nicht Hilfe, sondern Verwaltung ist. Er produziert Sicherheit durch Unsicherheit: Je weniger jemand versteht, desto mehr Fachkräfte werden gebraucht. Ein perpetuum mobile der staatlichen Selbstbeschäftigung.
Manchmal fragt man sich, ob es nicht einfacher wäre, jedem Bürger ein Basiseinkommen in Form eines goldenen Chips zu überreichen, den er an der Supermarktkasse gegen Brot, Strom oder Trost einlösen kann. Aber das wäre ja zu simpel. Ein solches System könnte kein Ministerium rechtfertigen, keinen Arbeitskreis, keine Beraterhonorare. Die Schönheit des deutschen Sozialwesens liegt gerade in seiner Undurchdringlichkeit. Nur im Dickicht kann man schließlich noch wachsen.
Währenddessen erblühen neue Ideen: Heizkostenzuschuss Plus, Bürgergeld Ergänzung, Transformationshilfe Ost-West. Der Staat entdeckt immer neue Lebenslagen, die noch nicht gefördert sind. Bald gibt es vermutlich eine Leistung für Menschen, die unter der Last der Antragstellung psychisch zusammenbrechen, inklusive Formular zur Beantragung dieser Leistung.
Man kann das alles auch als Ausdruck tief verwurzelter Nächstenliebe deuten, sofern man Liebe als komplizierte Angelegenheit begreift. Der Sozialstaat liebt seine Bürger, aber auf eine kontrollierte, regelkonforme Weise. Er will helfen, aber nur, wenn man die richtige Nummer zieht. Es ist die Zärtlichkeit eines Automaten: gleichmäßig, gerecht, emotionslos.
Und so bleibt das große deutsche Sozialmosaik das, was es immer war: eine Mischung aus Fürsorge und Fessel, aus Großmut und Groteske. Es schützt, aber es lähmt; es gibt, aber es erschlägt. Über fünfhundert Leistungen, jede ein Symbol für den guten Willen, jede ein kleiner Stein im Monument der Unübersichtlichkeit.
Am Ende steht der Bürger vor diesem Bauwerk, staunend, verwirrt, vielleicht auch ein wenig gerührt. Er sieht den Turm, den man zu seinem Besten errichtet hat, und denkt, halb ehrfürchtig, halb verzweifelt:
Wie gut, dass sich jemand um mich kümmert. Ich wüsste gar nicht, wie ich sonst dazu käme, Antrag Z4d, Abschnitt III, Seite 7, Punkt c, Frist bis Dienstag, korrekt auszufüllen.
Ein szenischer Epilog: Das Amt für Leistungen, die keiner versteht
Der Mann am Schalter war freundlich. Zu freundlich, eigentlich. Diese Art von Freundlichkeit, die man nur ertragen kann, wenn man weiß, dass sie nichts nützt. Auf seinem Namensschild stand: „Sachbearbeiter für Komplexitätsabgleich“. Der Besucher vor ihm, ein Mensch von durchschnittlicher Verzweiflung, hielt ein Bündel Papiere in der Hand, sorgfältig geordnet, gelocht, nummeriert. Er sah aus, als habe er sein ganzes Leben in Vorbereitung dieses Moments verbracht.
„Ich wollte nur wissen,“ begann er vorsichtig, „ob ich Anspruch auf die Zusatzleistung E37 habe. Man sagte mir, sie sei für Bürger in besonderen Lebenslagen.“
Der Sachbearbeiter lächelte dienstlich. „Natürlich, das prüfen wir gern. Haben Sie das Formular E37-A dabei?“
„Ich dachte, das ist das hier.“ Der Mann reichte ihm eine Mappe.
„Nein, das ist E37-V, Antrag auf Vorerfassung. Das brauchen Sie nur, wenn Sie E37-A schon vor dem Stichtag beantragt haben, aber nach dem Antrag auf E37-B Anspruch auf E37-Zusatz vermuten.“
„Und wenn nicht?“
„Dann müssen Sie zunächst das Formular E37-Null einreichen. Aber bitte beachten Sie: E37-Null gibt es nur digital, es sei denn, Sie beantragen das Papierformular schriftlich mit Begründung, warum Sie es digital nicht einreichen können.“
Der Mann nickte, langsam, wie einer, der merkt, dass er in ein weiches Sumpfgebiet geraten ist. „Und wie lange dauert das?“
„Das hängt von Ihrer Bedürftigkeitsstufe ab. Haben Sie schon die Bedürftigkeitsfeststellung beantragt?“
„Ich… ich dachte, das ergibt sich aus dem Antrag.“
Der Sachbearbeiter zog die Augenbrauen hoch, professionell betroffen. „Das dachten viele. Deswegen haben wir die Bedürftigkeitsfeststellung von der Bedürftigkeitsprüfung getrennt. Seit letztem Jahr gibt es außerdem die Bedürftigkeitsverifikation, aber die ist noch im Pilotverfahren.“
Eine lange Pause. Beide Männer sahen auf den Schreibtisch, auf dem ein Formularstapel wuchs wie eine geologische Schichtung der Nachkriegssozialgeschichte.
„Ich möchte ja eigentlich nur wissen,“ sagte der Antragsteller schließlich, „ob ich Anspruch habe.“
„Das kann ich Ihnen sagen!“ Der Beamte lächelte, fast erleichtert. „Das hängt davon ab.“
„Wovon?“
„Von Ihrem Anspruch.“
Stille. Ein leises Summen aus dem Kopierer im Hintergrund. Irgendwo tropfte eine alte Kaffeekanne.
„Aber keine Sorge,“ fuhr der Beamte fort, „Sie sind hier richtig. Wir sind das Amt für Leistungen, die keiner versteht. Wenn Sie Glück haben, kommen Sie bald zur Abteilung für Leistungen, die es gibt, aber niemand bekommt. Die sind zwei Stockwerke höher.“
Er reichte dem Mann ein neues Formular. „Das ist der Antrag auf Klärung, ob Sie den Antrag stellen dürfen.“
„Und was muss ich da eintragen?“
„Nichts. Das ist ein Selbstauskunftsformular. Sie bestätigen damit, dass Sie sich nicht sicher sind, ob Sie anspruchsberechtigt sind. Wenn Sie das unterschrieben zurückgeben, prüfen wir, ob Sie Anspruch auf eine Erstberatung haben.“
„Und wenn ich die bekomme?“
„Dann können Sie den Antrag auf Antragstellung stellen.“
Der Besucher nickte, als hätte er gerade das Rätsel der Sphinx gelöst. „Ich verstehe.“
„Sehr gut!“ Der Sachbearbeiter strahlte. „Dann sind Sie bereits in Förderstufe zwei: partielle Selbsterkenntnis. Dafür gibt es demnächst ein Pilotprojekt.“
„Ein Pilotprojekt?“
„Ja. Bürger, die den Sinn des Systems erkennen, sollen stärker gefördert werden. Wir nennen das Selbstwirksamkeitserprobung. Es gibt allerdings noch kein Formular dafür, aber man kann schon Interesse bekunden.“
Der Mann nahm das Blatt, auf dem nichts stand, faltete es behutsam und verließ das Büro. Auf dem Flur begegnete er einem älteren Herrn mit Aktentasche, der ihm zuraunte: „Gehen Sie besser gleich zum Schalter 7, dort gibt’s den Antrag auf Verzweiflungsbeihilfe.“
Der Antragsteller nickte dankbar und verschwand in Richtung Schalter 7.
Der Beamte seufzte zufrieden, stempelte etwas Unleserliches und notierte in seiner Akte: „Bürger zeigt erste Anzeichen von Verständnis. Weiterleitung an Förderstufe drei empfohlen.“ Dann lehnte er sich zurück, sah auf die Uhr und dachte, dass es doch schön sei, gebraucht zu werden.