Runen – Zeichen des Unsichtbaren

Über Ursprung, Magie und Missbrauch einer alten Schrift

Es gibt Schriftzeichen, die nicht bloß der Mitteilung dienen, sondern aus einer tieferen Ordnung zu sprechen scheinen. Zu diesen gehören die Runen. Sie sind keine bloßen Buchstaben, sondern ideographische Verdichtungen einer Weltauffassung, die das Wort nicht als technisches Mittel, sondern als schöpferische Kraft verstand. Ihr Ursprung liegt in einer Zeit, in der Sprache noch Wirken war, nicht Repräsentation; in der Zeichen nicht bedeuteten, sondern handelten. Die Runen sind Überreste einer vormodernen Metaphysik, die das Denken als Teil der Welt und nicht als ihr Gegenüber begriff.

Die frühesten Runeninschriften, meist auf Holz oder Stein, sind zugleich Zeugnisse der Macht des Wortes und seiner Zurückhaltung. Sie bestehen oft nur aus wenigen Zeichen, manchmal nur aus einem Namen oder einer Formel. Diese Sparsamkeit ist nicht Ausdruck mangelnder Sprachkunst, sondern Resultat einer ontologischen Scheu: Das Zeichen galt als gefährlich. Wer es setzte, griff in den Lauf der Dinge ein. Das Runenritzen war ein Akt der Weltgestaltung, ein Ritual, in dem Sprache und Materie eins wurden. In dieser Hinsicht sind Runen keine Schrift, sondern Schnittstellen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Bewusstsein und Welt.

Jede Rune war ein Bild und ein Klang, eine Bedeutung und ein Gesetz. Der älteste Runensatz, das ältere Futhark, umfasst vierundzwanzig Zeichen, keine willkürliche Zahl, sondern Ausdruck einer inneren Kosmologie. In den Runen verband sich Ordnung und Schicksal, Zahl und Klang, Linie und Bewegung. Der Mensch, der sie ritzte, glaubte nicht, eine Information zu speichern, sondern eine Macht zu beschwören. Die Schrift war ein Übergang zwischen Welten, ein Medium des Numinosen.

Philosophisch betrachtet, markieren die Runen die Schwelle zwischen Zeichen und Sein. Sie sind frühe Zeugnisse einer semantischen Ontologie, in der das Symbol nicht auf etwas verweist, sondern selbst Teil dessen ist, was es bedeutet. Das unterscheidet sie grundlegend von der späteren abendländischen Schriftkultur, die das Zeichen vom Gegenstand trennt. In der runischen Welt war der Name identisch mit dem Ding, und das Wort ein Akt der Wirklichkeit.

Diese Einheit von Sprache und Welt ist uns heute fremd geworden. Wir schreiben, um zu trennen; die Runen schrieben, um zu verbinden. Der moderne Mensch denkt die Welt als Objekt, der runische Mensch empfand sie als Resonanzraum. Das Ritzen einer Rune war ein Versuch, Ordnung zu schaffen, indem man sie nachbildete. In diesem Sinne war die Runenschrift weniger ein Kommunikationssystem als eine Kosmographie, ein Versuch, das Unsichtbare zu zeichnen.

Es ist kein Zufall, dass die Runen den Göttern zugeschrieben wurden. In der mythologischen Überlieferung erlangte Odin, der Wanderer und Gott der Erkenntnis, die Runen erst durch Selbstopfer: neun Nächte hing er, verwundet vom eigenen Speer, am Weltenbaum, bis ihm die Zeichen offenbart wurden. Diese Erzählung lässt sich als Parabel auf den Preis des Wissens lesen, Wissen entsteht aus Entbehrung, aus dem Verzicht auf Macht. Die Runen sind Symbole dieses Paradoxons: Sie schenken Einsicht, aber nur dem, der sie nicht zur Beherrschung der Welt, sondern zu ihrem Verständnis sucht.

Mit dem Verblassen des mythischen Weltbilds verloren die Runen ihre metaphysische Energie und wurden zu Schriftzeichen im profanen Sinn. Doch gerade in dieser Entleerung begann ihre zweite, dunkle Karriere. In der Neuzeit, insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert, wurden die Runen neu entdeckt, nicht mehr als Symbol des Wissens, sondern als Emblem der Herkunft. Was einst kosmologische Bedeutung trug, wurde ethnisch-national umgedeutet. Die Runen, ursprünglich Zeichen einer gemeinsamen nordischen Weltauffassung, wurden zu Symbolen einer exklusiven Identität, zu Fetischen der Abstammung und Reinheit.

Diese ideologische Vereinnahmung ist nicht zufällig. Wo das Symbolische verarmt, sucht das Politische Ersatz. Die Runen boten sich an, weil sie archaisch, kraftvoll und rätselhaft wirkten, ideale Projektionsflächen für mythische Selbstbilder. Die Verwandlung der Runen in Herrschaftszeichen, etwa in den Emblemen totalitärer Systeme, war der endgültige Bruch mit ihrem ursprünglichen Sinn. Was einst Ausdruck eines metaphysischen Vertrauens in die Sprache war, wurde zum Werkzeug politischer Magie: zur Suggestion von Macht, Herkunft und Geschlossenheit.

In dieser Pervertierung liegt eine tiefere Wahrheit über das Verhältnis von Symbol und Ideologie. Wo das Zeichen sich vom Unsichtbaren löst, gerät es in die Gewalt des Sichtbaren. Das Wort, das einst schöpferisch war, wird dann propagandistisch. Die Runen, einst Instrumente des Weltverstehens, wurden zu Instrumenten der Weltverstellung. Das mag erklären, warum sie bis heute eine ambivalente Faszination ausüben: Sie stehen für eine versunkene Ordnung, aber auch für ihre missbrauchte Wiederkehr.

Und doch haftet ihnen eine stille Würde an. Die archäologischen Steine, auf denen sie zu sehen sind, sprechen nicht von Blut und Rasse, sondern von Erinnerung, von Namen, von Übergängen. Viele Inschriften sind Grabzeichen, Widmungen, Gebete. In ihnen lebt eine Sprache der Stille, die sich jeder ideologischen Vereinnahmung entzieht. Vielleicht liegt darin das eigentlich Philosophische der Runen: Sie erinnern uns daran, dass Bedeutung nicht gemacht, sondern erfahren wird, dass jedes Zeichen ein Ort ist, an dem das Unsichtbare um Ausdruck ringt.

Wer heute auf eine Runenreihe blickt, sieht Linien, Winkel, Kreuzungen, und doch spürt man, dass sie mehr sind als ornamentale Formen. Sie tragen eine eigentümliche Spannung in sich, als stammten sie aus einer Welt, die uns ahnungsvoll bekannt und doch unendlich fern ist. In dieser Spannung liegt ihre Wirkung: Sie erinnern uns an den Ursprung des Denkens selbst, an den Moment, da das Wort noch nicht getrennt war vom Ding.

Vielleicht ist das ihre letzte Philosophie: dass Sprache ein Akt der Welt ist und nicht nur ihr Kommentar. Wenn die Runen also heute wieder betrachtet, studiert oder gar neu gedeutet werden, dann geschieht darin, bewusst oder unbewusst, ein Versuch, diese verlorene Einheit von Zeichen und Sein zu erahnen. Jede Rune ist ein Fragment dieser alten Übereinstimmung, ein Riss im modernen Bewusstsein, durch den ein anderer Begriff von Wahrheit hindurchscheint.

So bleiben die Runen, trotz allem, Zeichen des Unsichtbaren, Spuren einer Sprache, die nicht spricht, sondern wirkt. Sie mahnen, dass Wissen ohne Ehrfurcht in Macht umschlägt, und dass Macht, die sich des Symbols bemächtigt, stets Gefahr läuft, dessen Sinn zu zerstören. Vielleicht müssen wir lernen, die Runen nicht zu lesen, sondern zu hören, als das Echo einer Sprache, die die Welt noch kannte, bevor sie sie zu erklären begann.

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