Es gibt Worte, die wie schwach dosierte Gifte wirken: kaum spürbar beim ersten Hören, doch allmählich durchdringend, bis sie das Denken selbst verfärben. „Derangement“ ist eines dieser Wörter, ein schillernder Fremdkörper im deutschen Sprachraum, halb französisches Fieber, halb englische Diagnose. Es bezeichnet Unordnung, Verstörung, das Herausfallen aus der Bahn, und klingt zugleich nach Stil, nach geistiger Exzentrik, nach jener schönen Art des Wahns, die der Bourgeois nie versteht, aber heimlich bewundert.
Die Romantik der Entgleisung
Schon Rimbaud wusste, dass man das Leben nur verstehen kann, wenn man sich zuvor „in einer gewaltigen, bewussten Entregelung aller Sinne“ (le dérèglement de tous les sens) geübt hat. Das Derangement war hier kein Defekt, sondern eine Methode, ein Versuch, das Ich zu sprengen, um das Absolute zu berühren.
Der romantische Künstler, Rimbaud, Nerval, Hölderlin, verstand die Verwirrung nicht als Krankheit, sondern als Initiation. Die Entgleisung wurde zur mystischen Pflicht. Nur wer sich selbst verliert, findet vielleicht das Andere: das Göttliche, das Wahre oder wenigstens das schön Wahnsinnige.
Doch diese poetische Form des Derangements hatte ein Ziel. Sie war nicht ziellos, sondern metaphysisch: das Chaos als Durchgang zur Erkenntnis. Heute dagegen scheint das Derangement selbst zum Ziel geworden zu sein, eine Lebensform ohne Transzendenz, aber mit enormem Unterhaltungswert.
Die Gegenwart im Zustand der Dauerverwirrung
Man braucht keine Rimbauds mehr, um Verstörung zu erleben. Das Smartphone genügt. Das Zeitalter des permanenten Informationsflusses hat das Derangement demokratisiert. Jeder darf sich verlieren, und jeder muss.
Unsere Welt ist ein Theater der Überforderung: Nachrichten, Meinungen, Emotionen, die sich gegenseitig neutralisieren, bis nur noch das Zittern bleibt. Das Subjekt des 21. Jahrhunderts ist kein „Ich“ mehr, sondern eine zersplitterte Timeline.
Das moderne Derangement ist nicht heroisch, sondern banal. Es vollzieht sich nicht in ekstatischer Einsamkeit, sondern in algorithmischer Gemeinschaft. Früher stürzte der Dichter in den Wahnsinn, heute scrollt der Bürger ins Nichts.
Die ständige Aufgeregtheit, moralisch, politisch, medial, ist kein Ausdruck von Bewusstsein, sondern dessen Auflösung. Wir leben in einem Zeitalter des affektiven Kurzschlusses, in dem jeder Reiz sofort Reaktion verlangt, ohne dass Denken dazwischen treten dürfte.
Der Mensch, der sich früher mit Gott verwechselte, verwechselt sich heute mit seiner Meinung. Das Derangement der Moderne besteht darin, dass wir den Verlust jeder inneren Ordnung mit moralischer Überlegenheit verwechseln.
Der politische Rausch der Entrüstung
Man spricht inzwischen von „Trump Derangement Syndrome“, ein Spottbegriff, der jedoch mehr verrät, als seine Urheber ahnen. Die politischen Lager sind nicht mehr Gegner, sondern Spiegelbilder ihrer gegenseitigen Obsessionen. Jeder lebt vom Derangement des anderen.
Der Wahn hat sich demokratisiert: Er ist nicht länger pathologisch, sondern partizipativ. Die Gesellschaft gleicht einem kollektiven Nervensystem ohne Schmerzensgrenze. Wer heute noch ruhig bleibt, gilt nicht als gelassen, sondern als verdächtig.
Diese moralische Hysterie ist die säkulare Variante des mittelalterlichen Exorzismus: Man erkennt die Welt nicht mehr, man treibt sie aus. Der politische Diskurs gleicht einer Dauertherapiegruppe, in der alle schreien, aber niemand zuhört.
Das neue Derangement ist der Zustand, in dem der Verlust der Realität als moralische Haltung gilt. Empörung ersetzt Erkenntnis, Pose ersetzt Urteil, und das Pathologische wird zum Normalzustand erklärt.
Institutionelles Derangement, die selbstverwirrten Ordnungen
Das eigentlich Verstörende an der Gegenwart ist, dass das Derangement nicht länger am Rand haust, sondern im Zentrum residiert. Die einst ordnenden Mächte, Medien, Wissenschaft, Politik, haben ihre innere Achse verloren und bewegen sich nun taumelnd im Kreis, während sie das Taumeln zur Tugend erklären.
Die Medien verwechseln mittlerweile Bewegung mit Bedeutung. Sie erzeugen Empörung, um Aufmerksamkeit zu sichern, und rechtfertigen die Aufgeregtheit mit der Pflicht zur Aufklärung. Der Journalismus, der früher die Welt sortierte, gleicht heute einem Strom von Miniatur-Schocks, in dem Wahrheit nur noch als atmosphärische Stimmung vorkommt.
Das Derangement der Medien besteht darin, dass sie in dem Moment, da sie alles sichtbar machen, das Wesentliche unsichtbar machen: die Proportion.
Die Wissenschaft, die einst als Bollwerk der Vernunft galt, hat das gleiche Schicksal erlitten. Zwischen Förderlogik, moralischem Druck und öffentlicher Erwartung verliert sie ihren skeptischen Kern. Erkenntnis wird durch Bekenntnis ersetzt, Forschung durch Haltung, Kritik durch Konsens.
Das neue Ideal ist nicht mehr das wahre Urteil, sondern das richtige Signal. Der Wissenschaftler wird zum Glaubensbruder seiner eigenen Hypothesen, und das Derangement der Forschung besteht darin, dass sie sich selbst nicht mehr hinterfragt, sondern rechtfertigt.
Und die Politik schließlich hat aus dem Chaos eine Methode gemacht. Sie regiert nicht mehr durch Richtung, sondern durch Reaktion. Ihre Handlungen sind nicht Ausdruck von Macht, sondern von Angst, Angst vor Stagnation, Angst vor Unbeliebtheit, Angst vor der Realität.
Das politische Derangement äußert sich in der Dauertherapie der Maßnahme: jede Krise gebiert sofort eine moralische Erklärung, aber nie eine Lösung.
Alle drei Systeme, Medien, Wissenschaft, Politik, haben ihren ursprünglichen Sinn gegen eine neue Funktion eingetauscht: Selbsterregung als Existenzbeweis.
Das Zeitalter des institutionellen Derangements ist eines, in dem jede Instanz, die Ordnung verspricht, selbst der größte Unruhestifter geworden ist.
Die Ästhetik des Zusammenbruchs
Vielleicht aber liegt in diesem allgemeinen Derangement auch eine unerkannte Schönheit. Denn dort, wo die Ordnung zerfällt, entsteht Raum für das Unvorhersehbare. Jede Kultur, die sich zu sicher fühlt, versteinert; jede Gesellschaft, die zu viel weiß, wird dumm vor Gewissheit.
Das Derangement ist also nicht nur Krankheit, sondern auch Symptom einer lebendigen Instabilität, die schmerzhafte Voraussetzung jeder Erneuerung.
Vielleicht wird die Zukunft nicht den Vernünftigen gehören, sondern denen, die den Mut haben, ihren eigenen Wahn zu zähmen, statt ihn zu verleugnen. Das wäre die reife Form des Derangements: nicht als Flucht, sondern als bewusste Reibung, ein Widerstand gegen die sanfte Gleichförmigkeit, die sich „Normalität“ nennt.
Was bleibt: Die Notwendigkeit der Störung
Am Ende bleibt die Frage: Ist das Derangement zu vermeiden, oder ist es längst die Bedingung unserer Existenz?
Vielleicht ist das Chaos nicht das Gegenteil von Ordnung, sondern ihre Wahrheit. Vielleicht kann man in einer Welt, die in sich selbst erstickt, nur noch durch Verstörung überleben.
Denn wer immer vernünftig bleibt, bleibt auch harmlos. Und das wäre, in dieser Epoche des gepflegten Wahnsinns, der eigentliche Skandal.