Gedanken über den Verlust von Topographien der Erinnerung
Der Ort, der sich weigert zu verschwinden
Es gibt Plätze, die keine Schönheit beanspruchen, und gerade darin ihre Wahrheit finden. Der Stuttgarter Platz in Berlin, von Einheimischen liebevoll-ruppig „Stutti“ genannt, gehört zu dieser Sorte urbaner Überlebender. Er hat den Krieg, den Wiederaufbau, die Kommune I und den moralischen Niedergang überstanden, aber nicht die Gegenwart.
Was Bomben, Bordelle und Barrikaden nicht schafften, besorgte die Zeit nach 1989: die sanfte, durchgehübschte Verwischung aller Ränder. Früher war der „Stutti“ ein Ort, an dem Geschichte sich in Gesichtern ablagerte. Heute ist er, wie so viele seiner Art, ein freundlicher Nicht-Ort mit Sitzgelegenheiten aus Beton und dem obligaten Biomarkt.
Das Drama der Stadtentwicklung besteht ja darin, dass sie glaubt, mit der Entfernung des Schmutzes auch die Vergangenheit zu entsorgen. Und so wandelt sich der „böse Stutti“, dieser ehemalige Umschlagplatz für Schmuggelware, Ideale und nächtliche Abenteuer, zu einer jener „aufgewerteten“ Zonen, die niemandem mehr gehören, weil sie jedem gefallen wollen.
Eine Denkmalpflege des Gefühls
Michael Angele hat diesem Ort eine kleine Denkmalpflege des Gefühls gewidmet. Er schreibt nicht über den Platz, er schreibt über den Zustand, in dem Plätze verschwinden: in PDFs, in Investorenprospekten, in der Sehnsucht nach Authentizität, die keine mehr ist.
Sein Blick auf den Stuttgarter Platz gleicht einer archäologischen Bewegung im Asphalt, ein Suchen nach Resten, die sich nicht vermarkten lassen. Denn es gibt sie noch, die Orte, die sich widersetzen. Man muss sie nur erkennen, bevor sie von der Stadtplanung in Aquarellfarben überpinselt werden.
Die Brüchigkeit Europas
Der Stutti gehört zu einer aussterbenden Gattung, ebenso wie der Hamburger Hansaplatz, der Wiener Gürtel oder die Pariser Rue Saint-Denis, Plätze, an denen die Nacht noch etwas zu sagen hat und die Tagesordnung gelegentlich schwankt. In ihrer Brüchigkeit steckt das, was den glatten Städten fehlt: Erinnerung, Scham, Stolz, ein Rest von Anarchie.
Der Wiener Gürtel etwa, einst die pulsierende Grenze zwischen Bürgertum und Vorstadt, hat seine Halbwelt verloren, aber auch seinen Witz. Zwischen ehemaligen Bordellen und billigen Cafés entstehen Co-Working-Spaces, in denen man mit Laptop und Latte Macchiato die Kreativität verwaltet. Der Geruch von altem Bier, einst Teil der akustischen Landschaft, wurde durch den Duft von Sojamilch ersetzt. Auch das ist Fortschritt, nur riecht er nach nichts.
In Paris hat die Rue Saint-Denis ein ähnliches Schicksal ereilt. Wo früher das Flirren von Verruchtheit lag, herrscht nun das matte Licht globaler Austauschbarkeit. Die Schaufenster tragen Logos, die Bars heißen „Bistro 21“ oder „Maison quelque chose“, und selbst das Parfüm der Erinnerung ist verflogen.
Und in London, in Soho, spürt man dasselbe Zittern: Jener Stadtteil, der einst nach Rauch, Jazz und Heimlichkeit klang, atmet heute den kontrollierten Sauerstoff der Konzeptgastronomie. Wo früher Menschen an der Theke ihre Geschichten gegen ein Pint tauschten, wird heute Lebensstil konsumiert. Der Ort hat sein Gedächtnis verloren, wie ein alter Schauspieler, der noch auftritt, aber den Text nicht mehr weiß.
Die gepflegten Verluste
Diese „lost places“ sind keine Ruinen, sondern polierte Verluste, elegant zugedeckte Narben. Das Verschwinden, das hier stattfindet, geschieht nicht in Explosionen, sondern in Ausschreibungen. Es ist das stille Verblassen des Authentischen, das unauffällige Entschwinden dessen, was nicht geplant werden konnte.
Die Melancholie solcher Orte liegt darin, dass sie sich nicht retten lassen, weil sie schon gerettet wurden. Das macht ihre Tragik so modern: Sie sterben an ihrer Sanierung. Die Zeit, die einst in ihren Mauern wohnte, ist längst ausgezogen. Was bleibt, ist ein schön gestrichener Raum, in dem niemand mehr spricht.
Vielleicht ist das Verschwinden der Orte kein Unfall, sondern eine Folge unserer Gegenwart, die das Alte nicht erträgt, weil es an Endlichkeit erinnert. Orte wie der Stutti sind Mahnmale der Zeitlichkeit, sie zeigen, dass Dauer nicht in Perfektion liegt, sondern im Gebrauch, im Verschleiß, im Riss.
Der Glanz im Verfall
Walter Benjamin schrieb, dass wahre Geschichte im Moment des Verfalls aufleuchtet. Vielleicht gilt das auch für Orte. Erst wenn sie zu kippen beginnen, wenn ihre Fassaden Risse bekommen und ihre Namen vergessen werden, zeigen sie, wer wir waren.
Wer heute durch Charlottenburg geht, sollte den Blick nicht auf die frisch renovierten Fassaden richten, sondern auf das, was dazwischen verschwindet: das Flackern der alten Neonreklame, das Rascheln der Bäume, den Geruch von Kaffee, der nie gut war, aber echt. Zwischen all dem Vergänglichen lebt eine Zärtlichkeit, die die Stadtplanung nicht kennt, jene Zärtlichkeit, mit der man auf etwas blickt, das im Verschwinden begriffen ist und gerade deshalb schön wird.
Denn am Ende sind es nicht die Orte, die vergehen, es sind wir, die sie verlassen. Und wenn wir eines Tages glauben, sie vergessen zu haben, wird irgendwo auf einem Berliner Pflasterstein, einem Wiener Trottoir oder einer Pariser Bordsteinkante noch ein Rest von uns liegen, ein Abdruck jener flüchtigen Nähe zwischen Mensch und Ort, die kein Sanierungsplan der Welt je ersetzen kann.