Wenn Forscher zu Predigern und Thesen zu Glaubenssätzen werden, verliert die Wissenschaft ihren Sinn: die Suche nach Wahrheit.
Die moderne Wissenschaft verheddert sich in moralischer Selbstinszenierung. Nicht mehr das Ergebnis zählt, sondern die Gesinnung, mit der man es verkündet. Statt Erkenntnis strebt man nach Zustimmung, und wer widerspricht, gilt als Ketzer. Ein Essay über den leisen, aber tödlichen Wandel vom Denken zum Bekennen.
Es beginnt, wie alles Tragische beginnt: mit guten Absichten:
Die Welt ist komplex geworden, die Probleme drängend, die Öffentlichkeit fordernd. Also verlangt man von der Wissenschaft Haltung, moralische Klarheit, gesellschaftliche Relevanz. Und während man früher noch forschte, um zu verstehen, forscht man heute, um zu bestätigen, was man ohnehin schon weiß. Das Experiment wird zum Ritual der Selbstvergewisserung, die These zur Flagge, und wer sie nicht hoch genug hält, gilt als Verräter am Fortschritt.
Die Wissenschaft, jene letzte Bastion gegen das Geräusch der Meinung, ist zur PR-Abteilung der Moral geworden.
I. Der neue Kult der Haltung
Es gibt heute kaum noch einen Wissenschaftler, der nicht bekennt. Man „steht zu etwas“, „setzt Zeichen“, „bezieht Position“. Man erklärt nicht, man signalisiert. Das Denken tritt in den Dienst der Gesinnung, und das Experiment, früher der Versuch, das Ungewisse zu prüfen, wird zur Demonstration des Guten.
Wo einst der Zweifel residierte, wohnt nun das Selbstbewusstsein. Man weiß, dass man auf der richtigen Seite steht, der der Vernunft, der Menschlichkeit, der Nachhaltigkeit. Nur die Wahrheit, diese störrische, unpopuläre Dame, bleibt außen vor. Sie ist zu kompromisslos für die neue Zeit.
II. Die verlorene Unschuld der Erkenntnis
Einst galt die Wissenschaft als eine Methode, nicht als Moral. Galilei stellte sich der Kirche entgegen, nicht, weil er „aktivistisch“ war, sondern weil er überzeugt war, dass die Erde sich dreht. Heute hätte man ihn wahrscheinlich in eine Ethikkommission eingeladen, um seine „Kommunikationsweise“ zu überdenken.
Popper lehrte, dass eine Theorie nur dann wissenschaftlich ist, wenn sie widerlegbar bleibt. Doch in einer Kultur, die Widerspruch als Beleidigung empfindet, ist Falsifizierbarkeit längst durch Gefühlsvalidierung ersetzt. Der Satz „Ich fühle, also stimmt es“ hat sich in die Labore geschlichen, getarnt als „gesellschaftliche Sensibilität“.
Die Wissenschaft verliert dabei nicht nur ihre Methode, sondern ihren Mut. Sie hat verlernt, sich selbst zu widersprechen.
III. Die Moralisierung des Diskurses
Der Unterschied zwischen richtig und falsch ist einer zwischen Hypothesen. Der Unterschied zwischen gut und böse ist einer zwischen Menschen. Und genau dieser Sprung wurde vollzogen: Der Dissens wird nicht mehr sachlich, sondern moralisch verhandelt.
Man darf in manchen Disziplinen heute fast alles behaupten, nur nicht das Falsche. Ein Gedanke, der gegen die herrschende Überzeugung läuft, gilt als gefährlich. Es wird nicht mehr überprüft, ob er stimmt, sondern ob er schadet.
Wissenschaftliche Konferenzen erinnern zunehmend an Beichtstühle, in denen Forscher ihre „blinden Flecken“ bekennen, bevor sie überhaupt etwas sagen dürfen. Man bittet um Verzeihung für die eigene Perspektive, die eigene Herkunft, die eigene Unvollkommenheit, bevor man eine These wagt. Der Diskurs ist zu einer moralischen Zeremonie geworden, in der niemand mehr fragt, sondern alle zustimmen.
IV. Universitäten als Glaubensgemeinschaften
Die Universitäten, diese Kathedralen des Denkens, sind zu Synoden der Korrektheit mutiert. An den Fakultäten predigt man Diversität und denkt uniform. Fördergelder gibt es nur noch, wenn das Projekt „gesellschaftlich relevant“ ist, was in der Regel bedeutet: moralisch kompatibel.
Der Lehrstuhl ist die Kanzel, das Curriculum die Liturgie. Es wird nicht mehr gelehrt, wie man denkt, sondern was man zu denken hat. Ein Professor, der sich weigert, das „Narrativ“ seiner Zeit zu bedienen, ist heute so exotisch wie ein Astrologe im CERN.
Und wer wirklich wagt, kritisch zu sein, wird nicht widerlegt, sondern „kontextualisiert“, ein schönes Wort für Ausgrenzung mit akademischer Lizenz.
V. Der Triumph des Narrativs über die Methode
Die neue Wissenschaft liebt Geschichten. Sie erzählt vom „Klimakollaps“, vom „Gender-Spektrum“, von der „sozialen Gerechtigkeit im Molekül“. Die Sprache der Statistik wird ersetzt durch die Sprache des Pathos. Wer Zahlen zitiert, gilt als kalt; wer Gefühle beschwört, als fortschrittlich.
In dieser neuen Rhetorik ist Evidenz kein Faktum mehr, sondern ein Glaubensbekenntnis. Man „folgt der Wissenschaft“, wie man früher dem Papst folgte, ohne zu wissen, was sie sagt, aber mit dem beruhigenden Gefühl, zu den Guten zu gehören.
Das Narrativ triumphiert über die Methode. Man sucht keine Wahrheit, man produziert Identität. Die Hypothese dient nicht der Erkenntnis, sondern der Zugehörigkeit. Und so wird das Labor zum Theater der Gesinnung: Wer applaudiert, beweist Loyalität; wer fragt, stört.
VI. Der leise Rückzug der Wahrheit
Die Wahrheit ist leise geworden. Sie hat sich zurückgezogen in Nischen, in Fußnoten, in das Schweigen einiger weniger, die noch den Luxus des Zweifelns pflegen.
Denn der Zweifel ist das letzte Sakrileg. Wer heute sagt „Ich weiß es nicht“, wird angesehen, als habe er die Welt verraten. Dabei beginnt jede Erkenntnis genau dort: im Nichtwissen. Doch das Nichtwissen passt nicht in eine Zeit, die Haltung verlangt.
Die Wissenschaft stirbt nicht an den Lügen, sie stirbt an der moralischen Selbstzufriedenheit ihrer Vertreter. Am Hochmut derer, die glauben, sie dienten der Wahrheit, während sie längst der Tugend dienen.
VII. Die letzte Verteidigungslinie der Vernunft
Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Vielleicht gibt es noch jene wenigen, die die Wissenschaft nicht als Bühne, sondern als Werkzeug begreifen, als eine unvollkommene, manchmal unbequeme, aber unbestechliche Methode.
Sie werden nicht geliebt, diese letzten Zweifler. Sie sind sperrig, unzeitgemäß, unpopulär. Doch sie halten die Flamme am Leben. Denn der Fortschritt war nie das Produkt des Konsenses, sondern des Widerspruchs.
Am Ende wird die Wissenschaft nicht an den Feinden der Wahrheit scheitern, sondern an ihren Verteidigern. Jenen, die sie in moralischer Fürsorge ersticken.
Vielleicht wird man eines Tages sagen: Die Menschheit hat die Sterne erreicht, und dabei vergessen, warum sie je aufgeblickt hat.
Nachwort, in eigner Sache
Es gibt keine Wissenschaft ohne Risiko. Kein Denken ohne die Gefahr, sich zu irren. Wer diese Gefahr eliminiert, eliminiert das Denken selbst.
In einer Welt, die das Bekenntnis höher schätzt als das Ergebnis, bleibt nur der Rückzug in den stillen Raum des Zweifels. Dort, wo Erkenntnis noch nicht Tugend, sondern Abenteuer ist.
Denn dort, und nur dort, lebt die Wissenschaft.