Die Bigotterie des linken Denkens

Meditation über die Bigotterie des linken Denkens

Der Satz aus Konrad Paul Liessmanns jüngstem Werk „Was nun? Eine Philosophie der Krise“ , der dieser Meditation als Ausgangspunkt dient, ist von einer provokanten und zugleich tiefgründigen Schärfe: „Die Art, mit der die politische Linke ihre Toleranz gegenüber dem Islam zur Schau stellt, lässt den Verdacht aufkommen, dass hier kaum etwas Problematisches schmerzlich geduldet wird, sondern ein sublimes Einverständnis mit einer patriarchal-konservativen Lebensform signalisiert wird, der das eigene Unbewusste in einem Maße zustimmt, die das politische Über-Ich nie zulassen würde.“ Diese These fungiert als ein Skalpell, das in das Fleisch eines der zentralen Selbstverständnisse der politischen Linken schneidet, ihrer progressiven, emanzipatorischen und toleranten Identität. Sie postuliert einen fundamentalen Widerspruch, eine Form der intellektuellen und moralischen Bigotterie, die nicht aus bewusster Heuchelei, sondern aus den Tiefen einer komplexen psychischen und ideologischen Dynamik gespeist wird.

Die These ist bemerkenswert, weil sie nicht einfach moralisch anklagt, sondern psychoanalytisch diagnostiziert. Sie unterstellt der politischen Linken nicht bloße Doppelmoral, sondern eine Spaltung zwischen bewussten Überzeugungen und unbewussten Wünschen. Diese Spaltung ist das Kennzeichen der Bigotterie im eigentlichen Sinne, nicht die bewusste Lüge, sondern die unbewusste Selbsttäuschung, die es ermöglicht, zwei widersprüchliche Haltungen gleichzeitig einzunehmen, ohne den Widerspruch als solchen zu erkennen oder zu ertragen.

Das Paradox der linken Toleranz

Die politische Linke versteht sich historisch und programmatisch als Vorkämpferin für die Befreiung von Unterdrückung, für die Gleichstellung der Geschlechter, für sexuelle Selbstbestimmung und für die Freiheit des Individuums von religiöser Bevormundung. Ihr „politisches Über-Ich“, um die Begrifflichkeit der These aufzugreifen, ist geformt aus den Imperativen des Antifaschismus, Antirassismus, Feminismus und Säkularismus. Diese Werte sind nicht bloß abstrakte Prinzipien, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger Kämpfe gegen Unterdrückung, Patriarchat und religiösen Dogmatismus. Sie bilden das moralische Rückgrat einer Bewegung, die sich als Erbin der Aufklärung versteht.

Vor diesem Hintergrund erscheint die oft unkritische und zur Schau gestellte Toleranz gegenüber spezifischen Strömungen des Islam, die eben jene Werte fundamental infrage stellen, als ein tiefes Paradox. Es entsteht ein Unbehagen, wenn im Namen der kulturellen Vielfalt und des Antirassismus patriarchale Strukturen, Homophobie oder die Unterdrückung von Apostaten nicht nur ignoriert, sondern bisweilen aktiv verteidigt werden. Die zentrale Frage, die sich aufdrängt, ist daher: Handelt es sich bei dieser Haltung um eine mühsam errungene, schmerzhafte Duldung im Sinne Voltaires, der sagte, er verachte die Meinung des Anderen, würde aber sein Leben dafür geben, dass er sie äußern darf? Oder ist es, wie die These suggeriert, eine Form der unbewussten Komplizenschaft, ein „sublimes Einverständnis“ mit dem Verworfenen?

Die Beobachtung ist nicht neu, aber sie wird selten mit der psychoanalytischen Präzision formuliert, die die These auszeichnet. Zahlreiche Kommentatoren haben auf die seltsame Allianz zwischen progressiven Kräften und reaktionären religiösen Bewegungen hingewiesen. Der marokkanische Publizist Kacem El Ghazzali, selbst ein säkularer Flüchtling aus der muslimischen Welt, beschreibt, wie muslimische Islamkritiker, Feministinnen und Ex-Muslime von der Linken systematisch ignoriert oder sogar angefeindet werden, während konservative Vertreter als „authentische“ Stimmen der muslimischen Gemeinschaft hofiert werden. Die Linke, so Ghazzali, habe ein Problem: Ihre Solidarität unterliege einem ideologischen Kalkül, das nur jene Minderheiten unterstütze, die den „richtigen Unterdrücker“ haben, nämlich die politische Rechte oder den westlichen Imperialismus.

Psychoanalytische Anatomie der Bigotterie

Um dieses Paradox zu ergründen, bietet sich die Psychoanalyse als ein wertvolles Instrument an. Die These selbst lädt dazu ein, indem sie die Begriffe des „Unbewussten“ und des „politischen Über-Ichs“ ins Spiel bringt. Das politische Über-Ich der Linken repräsentiert die internalisierten moralischen und ethischen Standards der progressiven Bewegung. Es ist die innere Stimme, die zur Solidarität mit den Unterdrückten, zur Kritik an Machtstrukturen und zur Verteidigung universeller Menschenrechte mahnt. Das Über-Ich ist, in Freuds Terminologie, die Instanz der Moral, die aus der Verinnerlichung elterlicher und gesellschaftlicher Gebote entsteht. Im politischen Kontext ist es die Summe der normativen Forderungen, die eine Bewegung an sich selbst stellt.

Doch unter dieser bewussten und zur Schau getragenen Oberfläche brodelt das Unbewusste, ein Reich verdrängter Wünsche, Ängste und Affinitäten. Die These legt nahe, dass in diesem Unbewussten eine heimliche Zustimmung zu jenen patriarchal-konservativen Lebensformen existiert, die das Über-Ich vehement ablehnt. Es könnte eine verdrängte Sehnsucht nach Ordnung, nach klaren Hierarchien, nach einer Welt vor der als anstrengend empfundenen liberalen Ambiguität sein. Die Moderne, mit ihrer Auflösung traditioneller Bindungen, ihrer Pluralität von Lebensentwürfen und ihrer permanenten Infragestellung von Autoritäten, erzeugt nicht nur Freiheit, sondern auch Angst. Die Angst vor der Freiheit, wie Erich Fromm sie beschrieben hat, kann zu einer Sehnsucht nach Unterwerfung führen, nach einer Ordnung, die dem Individuum die Last der Selbstbestimmung abnimmt.

Diese Bigotterie wäre demnach kein Zeichen moralischer Verkommenheit, sondern das Symptom eines tiefen inneren Konflikts, in dem das Ich versucht, zwischen den rigiden Forderungen des politischen Über-Ichs und den verpönten Regungen des Unbewussten zu vermitteln. Das Ich, die vermittelnde Instanz zwischen Es und Über-Ich, zwischen Trieb und Moral, findet in der zur Schau gestellten Toleranz einen Kompromiss, der es erlaubt, beide Seiten zu befriedigen, ohne den Konflikt bewusst werden zu lassen. Die Toleranz wird zur Rationalisierung, zum Deckmantel für eine unbewusste Affinität.

Ideologiekritik nach Žižek

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hat die psychoanalytische Theorie für die Ideologiekritik fruchtbar gemacht. Für Žižek ist Ideologie keine bloße „falsche“ Vorstellung über die Realität, sondern eine unbewusste Fantasie, die unsere soziale Realität selbst strukturiert. Ideologie funktioniert nicht primär auf der Ebene des Wissens, sondern auf der Ebene des Genießens. Wir wissen sehr wohl, dass unsere ideologischen Überzeugungen widersprüchlich oder unhaltbar sind, aber wir handeln dennoch so, als ob wir es nicht wüssten. Žižek spricht von der „Formel des Zynismus“: „Sie wissen sehr wohl, was sie tun, aber sie tun es trotzdem.“

Die zur Schau gestellte Toleranz der Linken könnte in diesem Sinne als eine ideologische Fantasie verstanden werden, die einen tieferen Widerspruch verdeckt. Sie funktioniert als ein Mechanismus, der es dem Subjekt erlaubt, an seinem progressiven Selbstbild festzuhalten, während es gleichzeitig unbewusst eine Form von Genuss aus der Beobachtung des „Anderen“ zieht, der jene Dinge auslebt, die sich das linke Subjekt selbst verbietet. Die Toleranz wird zu einem Abwehrmechanismus, der die Konfrontation mit den eigenen, widersprüchlichen Wünschen und der eigenen ideologischen Leere verhindert. Das „sublime Einverständnis“ wäre dann die Art und Weise, wie das Unbewusste die verbotene patriarchal-konservative Ordnung genießt, während das Bewusstsein sich in der Geste der toleranten Überlegenheit sonnt.

Žižek hat in seinen Arbeiten wiederholt auf die Paradoxien der liberalen Toleranz hingewiesen. In seinem Essay „The Antinomies of Tolerant Reason“ argumentiert er, dass die westliche Toleranz gegenüber dem Islam oft auf einer fundamentalen Missachtung beruht. Wir tolerieren den Anderen nicht, weil wir ihn ernst nehmen, sondern weil wir ihn nicht ernst nehmen. Wir gestehen ihm zu, an seinen „archaischen“ Überzeugungen festzuhalten, weil wir stillschweigend davon ausgehen, dass er ohnehin nicht in der Lage ist, die Höhen der westlichen Aufklärung zu erreichen. Diese Form der Toleranz ist eine Form der Herablassung, die den Anderen infantilisiert und ihm die Fähigkeit zur Kritik und Selbstkritik abspricht.

Das ideologische Kalkül der Solidarität

Die Recherche bestätigt, was der Publizist Kacem El Ghazzali als „ideologisches Kalkül“ der Solidarität beschreibt. Eine Minderheit, so seine Beobachtung, erhält nur dann die volle Solidarität der Linken, wenn sie dem Bild des idealen Opfers entspricht, dessen Unterdrücker klar im gegnerischen politischen Lager, der Rechten, dem Kapitalismus, dem westlichen Imperialismus, verortet werden kann. Dieses Manöver erlaubt es, die eigene Position im Kampf „Gut gegen Böse“ zu festigen. Problematisch wird es, wenn die Unterdrückung innerhalb der Minderheit selbst stattfindet. Die Stimmen säkularer Muslime, von Ex-Muslimen, von feministischen oder LGBTQ-Aktivistinnen aus der muslimischen Welt werden systematisch überhört, da sie das einfache Narrativ stören.

Ihre Kritik wird als „islamophob“ oder als „den Rechten in die Hände spielend“ delegitimiert. Hier zeigt sich, wie das politische Über-Ich (Antirassismus) eine andere Forderung des Über-Ichs (Feminismus, Säkularismus) aussticht, um einen tieferen, unbewussten Konflikt zu vermeiden. Die Hierarchisierung der Werte ist dabei keineswegs zufällig. Der Antirassismus hat in der postkolonialen Linken eine hegemoniale Stellung erlangt, die es erlaubt, andere Werte zu relativieren oder zu opfern. Dies geschieht nicht aus böser Absicht, sondern aus einer tief verinnerlichten Schuldökonomie, die jede Kritik an nicht-westlichen Kulturen als potenzielle Wiederholung kolonialer Gewalt erscheinen lässt.

Ghazzali berichtet von seiner eigenen Erfahrung, wie er als säkularer Islamkritiker von linken Politikern in der Schweiz angegriffen wurde. Eine SP-Regierungsrätin bezeichnete seine Arbeit als „gegen den Islam wettern“, ein SP-Vorstandsmitglied erklärte, sie habe das Recht, Ex-Muslime zu „verachten“, weil sie „den Islam in den Dreck ziehen“. Diese Reaktionen sind aufschlussreich, weil sie zeigen, wie die Linke ihre Solidarität nicht nach dem Maßstab der Unterdrückung verteilt, sondern nach dem Maßstab der ideologischen Nützlichkeit. Der Ex-Muslim, der die patriarchalen Strukturen des Islam kritisiert, ist kein nützlicher Verbündeter im Kampf gegen den westlichen Imperialismus. Im Gegenteil, er stört das Narrativ und muss daher zum Schweigen gebracht werden.

Die Romantisierung des Patriarchats

Diese selektive Wahrnehmung wird oft von einer Haltung begleitet, die man als eine Art umgekehrten Orientalismus bezeichnen könnte. Während der klassische Orientalismus, wie Edward Said ihn beschrieben hat, den „Orient“ als exotisch, aber unterlegen konstruierte, neigt eine bestimmte Form des linken Denkens dazu, das „Andere“ zu romantisieren und zu essentialisieren. In dieser Sichtweise wird die patriarchal-konservative Lebensform nicht als soziales Problem, sondern als Ausdruck einer „authentischen“, vor-modernen Kultur verklärt, die es vor dem Zugriff des westlichen Imperialismus zu schützen gilt.

Dieser Kulturrelativismus führt zu einem Verrat an den universellen Werten der Aufklärung. Das Schweigen über die Verletzung von Frauenrechten, die Verfolgung von Homosexuellen oder die Bestrafung von Apostasie wird zur Tugend umgedeutet, zur Tugend der kulturellen Sensibilität. In Wahrheit ist es oft nichts anderes als die Projektion eigener, unerfüllter Sehnsüchte nach Gemeinschaft und Eindeutigkeit auf eine idealisierte, fremde Kultur. Die moderne westliche Gesellschaft, mit ihrer Atomisierung, ihrer Entwurzelung und ihrer permanenten Selbstoptimierung, erzeugt eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Sinn. Diese Sehnsucht wird auf den „Anderen“ projiziert, der in der Fantasie noch über jene gemeinschaftlichen Bindungen verfügt, die der Westen verloren hat.

Die Ironie ist, dass diese Romantisierung selbst eine Form des Rassismus ist. Sie verweigert dem Anderen die Anerkennung als gleichberechtigtes, kritikfähiges Subjekt und reduziert ihn auf die Rolle des exotischen Trägers einer „authentischen“ Kultur. Die muslimische Frau mit Kopftuch wird zur Ikone der Vielfalt stilisiert, während die muslimische Feministin, die gegen den Kopftuchzwang kämpft, als „verwestlicht“ oder „kolonialisiert“ abgetan wird. Die Linke schafft sich einen „Mustermuslim“, wie Ghazzali es nennt, der den Regeln der Political Correctness entspricht und den friedfertigen Islam beschwört, als ob der politische Islam eine Erfindung wäre.

Die Angst vor dem eigenen Rassismus

Ein zentraler Motor dieser Dynamik ist, wie Sascha Lobo im Spiegel analysiert, die tief sitzende Angst des linksbürgerlichen Milieus, als rassistisch zu gelten. Diese Angst führt zu einer Form der Selbstzensur und intellektuellen Lähmung. Der Imperativ, „den Rechten kein Futter zu geben“, wird zu einem übermächtigen Argument, das jede differenzierte Kritik am politischen Islam im Keim erstickt. Die Verwechslung von Kritik an einer Ideologie (Islamismus) mit der Anfeindung von Menschen (Muslimen) ist dabei ein fataler, aber weit verbreiteter Kurzschluss.

Es entsteht ein moralischer Narzissmus, bei dem die Reinheit der eigenen Haltung und die Vermeidung des Rassismus-Vorwurfs wichtiger werden als die Solidarität mit den tatsächlichen Opfern islamistischer Ideologie. Das Ergebnis ist ein bewusstes Schweigen gegenüber einer Form von Menschenfeindlichkeit, um nicht in den Verdacht zu geraten, einer anderen Form Vorschub zu leisten. Lobo vergleicht diese Haltung mit der Härte Julius Cäsars gegenüber seiner Ehefrau: „Die Frau des Cäsars dürfe noch nicht einmal in Verdacht geraten.“ Teile des Linksbürgertums möchten noch nicht einmal in den Verdacht geraten, etwas zu sagen, was von manchen als rassistisch bezeichnet werden könnte, und halten deshalb zum Thema Islamismus lieber die Schnauze.

Diese Angst ist nicht unbegründet. Die Geschichte des Rassismus, des Kolonialismus und des Antisemitismus in Europa hat tiefe Spuren hinterlassen. Die Linke hat sich historisch als Gegenkraft zu diesen Übeln verstanden, und die Furcht, auf die falsche Seite der Geschichte zu geraten, ist real. Doch die Angst darf nicht zur Lähmung führen. Die Weigerung, zwischen legitimer Kritik und rassistischer Hetze zu unterscheiden, ist selbst eine Form der intellektuellen Kapitulation. Sie bedeutet, dass die Rechten das Monopol auf die Islamkritik erhalten, was wiederum dazu führt, dass jede Islamkritik als rechts codiert wird, ein Teufelskreis, der nur durch den Mut zur Differenzierung durchbrochen werden kann.

Identitätspolitik und die Auflösung des Individuums

Ein weiterer Faktor, der zur Bigotterie der Linken beiträgt, ist die Dominanz der Identitätspolitik. Die Identitätspolitik, die ursprünglich als Strategie zur Sichtbarmachung marginalisierter Gruppen entwickelt wurde, hat sich in Teilen der Linken zu einer Ideologie verfestigt, die das Kollektiv über das Individuum stellt. In dieser Logik wird der Mensch primär als Mitglied einer Gruppe definiert, als Frau, als Person of Color, als Muslim, und nicht als autonomes Individuum mit eigenen Überzeugungen und Interessen.

Diese Essentialisierung führt zu einer paradoxen Situation: Im Namen der Vielfalt wird die Vielfalt innerhalb der Gruppen geleugnet. Der Muslim, der den Islam kritisiert, der Homosexuelle, der gegen die Homophobie in seiner Gemeinschaft kämpft, die Frau, die das Kopftuch ablehnt, sie alle werden als Verräter an ihrer „authentischen“ Identität betrachtet. Die Linke, die sich historisch als Verteidigerin des Individuums gegen die Zumutungen von Tradition und Autorität verstand, wird so zur Verteidigerin reaktionärer Gemeinschaftsstrukturen.

Ghazzali weist darauf hin, dass der Grund für diese Haltung in der sozialistischen Idee selbst liegen mag, die das Kollektiv höher wertet als das Individuum und seine freiheitlichen Rechte. Diese Diagnose ist scharf, aber nicht unbegründet. Die Spannung zwischen kollektiver Emanzipation und individueller Freiheit zieht sich durch die gesamte Geschichte der Linken. Doch wenn die Verteidigung des Kollektivs dazu führt, dass die Rechte der Individuen innerhalb des Kollektivs geopfert werden, dann hat die Linke ihre emanzipatorische Mission verraten.

Das Unbewusste begehrt Autorität

Kehren wir zur psychoanalytischen Dimension der These zurück. Warum sollte das Unbewusste der Linken einer patriarchal-konservativen Lebensform zustimmen? Eine mögliche Antwort liegt in der Ambivalenz der Moderne selbst. Die Moderne verspricht Freiheit, aber sie liefert auch Unsicherheit. Die Auflösung traditioneller Bindungen, die Pluralisierung von Lebensentwürfen, die permanente Infragestellung von Autoritäten, all dies erzeugt nicht nur Befreiung, sondern auch Angst. Die Angst vor der Freiheit, die Erich Fromm in seiner gleichnamigen Studie beschrieben hat, kann zu einer Sehnsucht nach Unterwerfung führen, nach einer Ordnung, die dem Individuum die Last der Selbstbestimmung abnimmt.

Diese Sehnsucht ist nicht auf die politische Rechte beschränkt. Auch im linken Subjekt können sich verdrängte Wünsche nach Autorität, nach klaren Hierarchien, nach einer Welt vor der liberalen Ambiguität regen. Die patriarchal-konservative Lebensform, die das politische Über-Ich der Linken ablehnt, könnte im Unbewussten als ein Ort der Ordnung und der Gewissheit erscheinen. Der „Andere“, der noch über jene autoritären Strukturen verfügt, die der Westen überwunden hat, wird zum Objekt einer projektiven Identifikation. Das linke Subjekt projiziert seine eigenen verdrängten Wünsche auf den Anderen und genießt stellvertretend, was es sich selbst verbietet.

Diese Dynamik ist nicht neu. Schon Sigmund Freud hat in „Das Unbehagen in der Kultur“ beschrieben, wie die Zivilisation auf der Unterdrückung von Trieben beruht und wie diese Unterdrückung zu einem permanenten Unbehagen führt. Die moderne, liberale Gesellschaft verlangt vom Individuum ein hohes Maß an Triebverzicht, Verzicht auf Aggression, auf sexuelle Willkür, auf die Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse. Dieser Verzicht erzeugt ein Unbehagen, das sich in verschiedenen Formen äußern kann. Eine dieser Formen könnte die unbewusste Affinität zu jenen Kulturen sein, die diesen Verzicht nicht oder in geringerem Maße verlangen.

Das sublime Einverständnis

Was genau bedeutet „sublim“ in diesem Kontext? Das Sublime bezeichnet in der Ästhetik, insbesondere bei Kant und Burke, eine Erfahrung, die überwältigend ist und sowohl Lust als auch Schmerz, Anziehung und Abstoßung hervorruft. Das Sublime ist das Erhabene, das die Grenzen unserer Vorstellungskraft übersteigt und uns gleichzeitig fasziniert und erschreckt. Das Einverständnis mit der patriarchal-konservativen Lebensform ist „sublim“, weil es nicht direkt und offen, sondern auf eine verdeckte, fast ästhetisierte Weise geschieht. Es ist die Faszination des Abgründigen, die Anziehungskraft des Verbotenen, die sich in der Geste der zur Schau gestellten Toleranz tarnt.

Das Unbewusste findet einen Weg, seine verpönten Wünsche nach Autorität und Ordnung zu befriedigen, indem es sie auf den „Anderen“ projiziert und diese Projektion dann unter dem Deckmantel der Toleranz „genießt“. Die Toleranz ist hier nicht das Ergebnis eines schmerzhaften Ringens, sondern die elegante Lösung eines inneren Konflikts, die es erlaubt, sich selbst treu zu bleiben, indem man sich selbst betrügt. Das Sublime liegt in der Ambivalenz dieser Geste: Sie ist gleichzeitig Anerkennung und Verleugnung, Nähe und Distanz, Zustimmung und Ablehnung.

Die „Zur-Schau-Stellung“ der Toleranz, die die These erwähnt, ist dabei von zentraler Bedeutung. Es geht nicht um eine stille, private Duldung, sondern um eine öffentliche, performative Geste. Die Toleranz wird inszeniert, sie wird zum Signal der eigenen moralischen Überlegenheit. Diese Inszenierung ist selbst ein Symptom. Sie verrät, dass es hier nicht primär um die Sache geht, um die tatsächliche Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen,, sondern um die Selbstdarstellung des toleranten Subjekts. Die Toleranz wird zum narzisstischen Spiegel, in dem sich das linke Subjekt seiner eigenen Tugendhaftigkeit versichert.

Vom Schweigen zur Zustimmung

Die Journalistin Erica Zingher hat in der taz darauf hingewiesen, dass aus dem Schweigen der Linken zum Islamismus inzwischen oft aktive Zustimmung geworden ist. Viele Linke sind heute außerordentlich laut, wenn es um Islamismus geht, sie relativieren oder verharmlosen ihn aktiv. Nach dem genozidalen Massaker vom 7. Oktober 2023 in Israel marschierten Linke bei teils antisemitischen, teils islamistischen Protesten mit. Auf einer Kundgebung der islamistischen Gruppierung Muslim Interaktiv applaudierten Linke und riefen „Siamo tutti antifascisti“, eine Parole gegen Faschismus unter Anhängern, die sich dem Totalitarismus verschrieben haben.

Diese Entwicklung ist beunruhigend, weil sie zeigt, dass die Bigotterie nicht mehr nur unbewusst wirkt, sondern sich zunehmend in bewusste politische Positionen übersetzt. Die antiimperialistische Linke, für die der Kampf gegen „den Westen“ wichtiger ist als die Verteidigung emanzipatorischer Werte, hat an Einfluss gewonnen. In dieser Logik wird jeder Feind des Westens zum potentiellen Verbündeten, unabhängig davon, welche Werte er vertritt. Der Islamismus wird nicht trotz, sondern wegen seiner antiwestlichen Ausrichtung toleriert oder gar unterstützt.

Zingher weist darauf hin, dass Islamisten selbst den Vorwurf des antimuslimischen Rassismus nutzen, um Kritiker zu diskreditieren. Die Linke, die sich vor diesem Vorwurf fürchtet, wird so zum nützlichen Idioten einer reaktionären Bewegung. Die Berliner Jusos haben beschlossen, den Begriff „Islamismus“ nicht mehr zu verwenden, weil die „begriffliche Nähe zum Islam“ problematisch sei. Diese Wortakrobatik ersetzt keine politische Arbeit. Nicht das Wort Islamismus bedroht Muslime, sondern Islamisten selbst. Gerade säkulare und liberale Muslime werden von denen angefeindet, die den Islam radikal auslegen, Frauen unterdrücken, Schwule und Juden hassen.

Wege aus der Bigotterie

Ein Ausweg aus dieser intellektuellen und moralischen Sackgasse kann nur über eine radikale Selbstreflexion führen. Die politische Linke muss den Mut aufbringen, ihre eigenen unbewussten Motive, ihre Ängste und ihre verdrängten Sehnsüchte zu analysieren. Dies erfordert eine Bereitschaft zur Psychoanalyse im politischen Sinne, eine Bereitschaft, die eigenen Abwehrmechanismen, Projektionen und Rationalisierungen zu erkennen und zu durcharbeiten. Die Frage muss lauten: Warum fällt es uns so schwer, patriarchale Strukturen zu kritisieren, wenn sie im Namen des Islam auftreten? Warum sind wir bereit, Werte zu relativieren, für die wir in anderen Kontexten kompromisslos eintreten?

Die Linke muss zu einem konsequenten Universalismus zurückfinden, der die Menschenrechte nicht an den Grenzen von Kulturen oder Religionen relativiert. Universalismus bedeutet nicht, dass alle Kulturen gleich sein müssen, sondern dass alle Menschen die gleichen Rechte haben. Es bedeutet, dass die Freiheit der Frau, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, die Freiheit von und zur Religion nicht verhandelbar sind, unabhängig davon, in welchem kulturellen oder religiösen Kontext sie eingefordert werden. Der Kulturrelativismus, der diese Rechte im Namen der kulturellen Vielfalt opfert, ist ein Verrat an der emanzipatorischen Mission der Linken.

Wahre Solidarität gilt nicht abstrakten Kollektiven, sondern den konkreten Individuen in ihrem Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung. Dies erfordert den Mut zur Kritik, auch wenn diese Kritik von der falschen Seite instrumentalisiert werden könnte. Die Angst, „den Rechten Futter zu geben“, darf nicht zur Selbstzensur führen. Im Gegenteil: Wenn die Linke die Islamkritik den Rechten überlässt, dann gibt sie ihnen nicht nur Futter, sondern das gesamte Terrain. Die Lösung kann nicht darin bestehen, zu schweigen, sondern darin, eine emanzipatorische, antirassistische Islamkritik zu entwickeln, die sich von der rechten Hetze klar unterscheidet.

Dies erfordert die Fähigkeit, zwischen der Kritik an einer Ideologie und der Hetze gegen Menschen zu unterscheiden. Islamkritik ist nicht Muslimfeindlichkeit. Der Islam als Religion und der Islamismus als politische Ideologie sind nicht dasselbe. Muslime sind keine homogene Masse, sondern Individuen mit unterschiedlichen Überzeugungen und Interessen. Diese Differenzierungen mögen banal klingen, aber sie sind in der politischen Praxis oft verloren gegangen.

Vor allem aber erfordert es die Bereitschaft, die eigene moralische Komfortzone zu verlassen und die schmerzhaften Widersprüche der eigenen Position auszuhalten, anstatt sie durch die sublime Geste einer falschen Toleranz zu überdecken. Die Linke muss lernen, mit Ambivalenzen zu leben, ohne sie durch ideologische Vereinfachungen aufzulösen. Sie muss lernen, dass Toleranz nicht bedeutet, alles zu akzeptieren, sondern das Richtige zu tun, auch wenn es schwierig ist. Sie muss lernen, dass wahre Emanzipation nicht darin besteht, das Andere zu romantisieren, sondern darin, allen Menschen die gleichen Rechte und die gleiche Würde zuzugestehen.

Die Bigotterie des linken Denkens ist kein unveränderliches Schicksal, sondern ein Symptom, das auf einen tieferen Konflikt verweist. Dieser Konflikt kann nur durch Selbsterkenntnis und durch die Bereitschaft zur Veränderung überwunden werden. Die These, mit der diese Meditation begann, ist eine Provokation, aber sie ist auch eine Einladung, eine Einladung zur Reflexion, zur Selbstkritik und zur Erneuerung einer emanzipatorischen Politik, die ihren Namen verdient.

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