Die Demokratie als pädagogisches Projekt

Über staatliche Demokratieförderung, ihre Paradoxien und die Frage nach dem Vertrauen

Es gehört zu den Paradoxien moderner Demokratien, dass sie sich umso gefährdeter fühlen, je stabiler ihre Institutionen sind. Deutschland liefert dafür ein beredtes Beispiel. Seit 2015 existiert das Bundesprogramm „Demokratie leben!“, getragen vom Familienministerium, ausgestattet mit inzwischen fast zweihundert Millionen Euro jährlich. Es wurde 2014 durch die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig ins Leben gerufen und startete dann offiziell am 1. Januar 2015.

Das Programm löste die bis Ende 2014 laufenden Bundesprogramme „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ und „Initiative Demokratie Stärken“ ab. Es ist ein Förderprogramm des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und unterstützt deutschlandweit Projekte, die sich für Demokratie und Vielfalt einsetzen und gegen Extremismus arbeiten.

Das Programm läuft mittlerweile in seiner dritten Förderperiode (2025 bis 2032) und ist Teil der Regierungsstrategie „Gemeinsam für Demokratie und gegen Extremismus“.Sein Anspruch: „Demokratische Kultur fördern, Vielfalt gestalten, Extremismus vorbeugen.‟

Doch was auf den ersten Blick wie eine uneigennützige Stärkung des Gemeinwesens erscheint, wirft bei genauerem Hinsehen grundsätzliche Fragen auf: Kann eine Demokratie, die diesen Namen verdient, überhaupt von staatlicher Seite „gestärkt“ werden? Oder verrät sich hier ein strukturelles Misstrauen gegenüber der eigenen Substanz?

Demokratie als Selbstorganisation

Demokratie lebt von der Fähigkeit der Bürger, sich selbst zu organisieren, Konflikte auszutragen, Kompromisse zu schließen und Institutionen zu tragen. Sie ist kein pädagogisches Projekt, sondern eine soziale Praxis.

Wenn jedoch der Staat Programme auflegt, um „Demokratie zu fördern“, kehrt er dieses Prinzip ins Gegenteil. Plötzlich ist es nicht mehr die Gesellschaft, die Demokratie hervorbringt, sondern der Staat, der sie den Bürgern einimpfen will. Der Bürger erscheint nicht länger als Träger der Demokratie, sondern als Schüler, der in Nachhilfeunterricht geschickt wird.

Zivilgesellschaft unter staatlicher Kuratel

Offiziell heißt es, „Demokratie leben!“ stärke die Zivilgesellschaft. Doch wie unabhängig ist eine Organisation, deren Finanzierung zu einem großen Teil aus staatlichen Subventionen stammt? Autonomie entsteht nicht durch Alimentierung, sondern durch die Fähigkeit, eigene Ressourcen zu mobilisieren und eigene Prioritäten zu setzen.

Wo Millionen verteilt werden, folgt die Agenda unweigerlich den Förderrichtlinien. NGOs verwandeln sich in Subunternehmer des Staates. Damit verliert die Zivilgesellschaft jene kritische Unabhängigkeit, die sie in einer Demokratie eigentlich auszeichnen sollte.

Pädagogisierung der Politik

Hinter der Förderlogik verbirgt sich eine psychologische Dimension. Der Bürger gilt als latent anfällig für Verführungen, Verschwörungen, Extremismen, und muss deshalb belehrt, geschult, betreut werden. Demokratie erscheint nicht als Ausdruck souveräner Mündigkeit, sondern als fragile Pflanze, die ständiger Pflege bedarf.

Das Ergebnis ist eine pädagogisierte Demokratie, die ihre Bürger weniger als freie Akteure behandelt, sondern als Klientel, die es zu erziehen gilt. Damit aber nähert sie sich jenen Formen politischer Bevormundung an, die sie eigentlich überwinden wollte.

Propaganda oder Legitimation?

Die Grenze zwischen legitimer Demokratieförderung und subtiler Propaganda ist dünn. Wer entscheidet, was „demokratisch“ ist? In einer parlamentarischen Demokratie sind es zwangsläufig die Regierungen der jeweiligen Zeit. Förderentscheidungen können so leicht in eine Schieflage geraten: Manche Extremismen werden intensiv bekämpft, andere eher am Rande.

Die Gefahr liegt auf der Hand: Was unter dem Label „Demokratie stärken“ erscheint, dient in Wirklichkeit der Legitimation bestimmter politischer Deutungen. Kritik an der Regierung lässt sich so implizit in den Verdacht der Demokratiefeindlichkeit rücken.

Internationale Perspektiven

Im internationalen Vergleich treten verschiedene Modelle zutage:

USA: Dort existiert kein vergleichbares Programm. Die Demokratie versteht sich als Selbstzweck und verlässt sich auf die Zivilgesellschaft. Das Resultat ist eine dramatische Polarisierung: Ohne pädagogische Rahmung zerfällt der gesellschaftliche Kitt.

Frankreich: Hier herrscht die republikanische Mission. Der Staat erzieht seine Bürger zu Werten der Laïcité und citoyenneté. Das schafft Stabilität, hat aber rigiden, bisweilen ausschließenden Charakter.

Skandinavien: Vertrauen ist das Schlüsselwort. Dort braucht es kaum Demokratieförderung, weil die Gesellschaft auf ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit und Transparenz vertraut. Demokratie ist gelebte Normalität, nicht bedrohte Ausnahme.

Deutschland: Geprägt von NS- und DDR-Erfahrung, dominiert das Leitbild der „wehrhaften Demokratie“. „Demokratie leben!“ kombiniert amerikanische Furcht vor Radikalisierung mit französischem Etatismus: ein Versuch, die Gesellschaft präventiv gegen Irrwege zu immunisieren. Doch in diesem Versuch artikuliert sich weniger Stärke als ein Mangel an Vertrauen.

Vertrauen oder Misstrauen?

Damit stößt man auf die Grundfrage: Soll der Staat seine Bürger „demokratisieren“?

Befürworter sagen: Ja, ohne politische Bildung und Wertevermittlung sei Demokratie schutzlos. Kritiker wenden ein: Eine Demokratie, die sich durch staatliche Pädagogik absichert, untergräbt ihre eigenen Prinzipien.

Am Ende läuft alles auf die Frage des Vertrauens hinaus. Eine reife Demokratie vertraut auf ihre Bürger und ihre Institutionen. Sie setzt auf offene Debatten, in denen auch Irrtümer und Zumutungen Platz haben. Eine fragile Demokratie dagegen betrachtet ihre Bürger als potenziell gefährdete Subjekte, die fortwährender Anleitung bedürfen.

Schluss

Programme wie „Demokratie leben!“ erzählen weniger von der Stärke der Demokratie als von ihrer Unsicherheit. Sie inszenieren Demokratie als gefährdete Ordnung, die gerettet, gestützt, pädagogisch flankiert werden muss.

Doch Demokratie beweist ihre Stabilität nicht durch ständige Selbstversicherung, sondern durch Gelassenheit. Sie lebt davon, dass sie Dissens aushält, Vertrauen wagt und ihre Bürger ernst nimmt. Alles andere ist gut gemeint, und verrät doch den Kern ihrer Idee.

Dieser Beitrag wurde unter Fundstücke, Gedanken zum Tag, Menschen untereinander, Moderne Zeiten, Schlimme Wörter, Systemfehler abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.