Er wäre so gerne ein anderer, doch leider ist er so, wie er ist

Eine ironische Fallstudie über das moderne Ungenügen

Von außen betrachtet wirkt er gar nicht so unglücklich. Der Mantel sitzt, der Scheitel hält, die Espressotasse ruht in einer Pose zwischen Grandezza und gepflegter Melancholie in der Hand. Auf Instagram blinzelt er nachdenklich gegen das Licht der goldenen Stunde, während er Zitate von Pessoa, Camus oder, wenn es ganz mutig wird, Slavoj Žižek unter seine Selfies montiert. Kurzum: Alles ist da, alles ist stimmig. Und doch: etwas stimmt nicht.

Denn tief in seinem Inneren, dort, wo früher einmal Prinzipien wohnten, lungert heute ein unfertiges Idealbild von sich selbst herum, das ihm täglich vorwirft, nicht genug gewesen zu sein. Nicht radikal genug, nicht sanftmütig genug, nicht visionär, charmant, gebildet, zerrissen oder ironisch genug. „Er wäre so gerne ein anderer“, seufzt er, und öffnet zum 37. Mal an diesem Tag die App seiner Wahl, in der Hoffnung, der Algorithmus möge ihm endlich zeigen, wer er sein könnte. Doch leider: Er ist so, wie er ist. Und das ist, in seinem Fall, bedauerlich gewöhnlich.

Der Mensch im Spiegelkabinett

Man stelle sich das einmal vor: ein Mensch, ausgestattet mit sämtlichen Freiheiten der westlichen Zivilisation, unbehelligt von Krieg, Hunger oder übermäßiger Verantwortung, findet sich selbst, wie soll man sagen, suboptimal. Er lebt in einer Epoche, in der Selbstfindung zu einem Volkssport geworden ist, in der das Ich nicht nur sein darf, wie es ist, sondern sein muss, wie es sein will. Und dennoch: das Ergebnis ist unbefriedigend.

Er, nennen wir ihn Julian, obwohl er auch ein Kevin oder ein Jonathan oder ein Ben sein könnte, hat früh begonnen, sein Ich zu kuratieren. Zuerst im Kinderzimmer: Dinosaurier, Piraten, Space-Cowboys. Später kamen Philosophiestudium, Bio-Bananen und feministische Literatur hinzu. Julian bemühte sich redlich, ein Mensch von Welt zu werden. Einer, den man auf Dinnerpartys zitiert, auf Demonstrationen fotografiert und in Podcasts einlädt. Einer mit Haltung, aber auch mit Witz. Mit einer Note Dostojewski, aber bitte in Bioqualität.

Doch der Fortschritt stockte. Der innere Held, den er sich in seinen besseren Momenten ausmalt, bleibt ein Phantom. Stattdessen begegnet er sich immer wieder selbst, mit schiefem Lächeln, mittelguten Gedanken und einer Vorliebe für mittelmäßigen Chardonnay.

Die Welt als Wille zur Selbstdarstellung

Julian lebt in einer Welt, in der alles Ausdruck ist. Ausdruck von Stil, Haltung, innerer Reife, und das bei maximaler externer Validierung durch Instagramm. Sogar das Scheitern muss heute ästhetisch sein. Die Zerknirschung wird kunstvoll inszeniert, der Burnout zur „Pause zur Selbstklärung“, das melancholische Selbstgespräch zur Podcast-Folge. Was früher der Rückzug ins Private war, ist heute eine Live-Übertragung mit Kommentarspalte.

Und Julian? Hat verstanden, dass man heute keine Biografie mehr hat, sondern eine Marke. Doch leider ist seine Marke:

„Uneindeutig. Authentisch. Unwirksam.“

Er hat es versucht. Auf seinem Blog, julianisch.de, stehen Texte wie: „Warum ich nicht mehr perfekt sein muss (aber es trotzdem versuche)“ oder „7 Dinge, die ich an mir liebe, und warum sie mich trotzdem nicht retten“. Seine Freunde, die in Wahrheit eher Kontakte sind, liken das ironisch. Oder ironisch-ironisch. Oder gar nicht, es ist schwer zu sagen in einer Welt, in der alles Doppelkodierung ist.

Die Tyrannei der Authentizität

In einer Gesellschaft, die Authentizität als höchste Währung feiert, ist es besonders bitter, wenn das eigene Ich beim Kassensturz nur Kleingeld ausspuckt. „Sei du selbst“, ruft die Welt. „Aber sei besser als du.“

Julian hat das wörtlich genommen. Er wollte anders sein, und das mit einem Furor, der fast schon wieder bewundernswert ist. Er hat sich bemüht, aber es wollte einfach nicht gelingen. Denn wie jeder inzwischen weiß: Wer authentisch sein will, ist es nicht. Authentizität ist wie Charme, sie verdunstet, sobald man sie beabsichtigt.

Zwischen Selbsthass und Selbstakzeptanz: die Komfortzone als Kriegsgebiet

Natürlich könnte Julian sich einfach akzeptieren. Sich in der eigenen Durchschnittlichkeit einrichten, ein wenig gärtnern, abends Lineker hören, morgens die Achtsamkeitsroutine absolvieren. Doch der Gedanke, nicht ein anderer zu werden, ist ihm unerträglich. Es wäre eine Kapitulation, und Kapitulation ist in seinem Kosmos schlimmer als Sinnlosigkeit.

Er hasst sich nicht. Dafür müsste er sich zu wichtig nehmen. Aber er enttäuscht sich täglich selbst, mit einer Konsequenz, die fast wieder Charakter zeigt. Er ist wie ein Schauspieler in einer Rolle, die ihm nicht passt, aber er kann das Theater nicht verlassen, weil der Vorhang nie fällt.

Manchmal, spätabends, fragt er sich: Vielleicht bin ich einfach nicht für das große Ich bestimmt. Vielleicht bin ich der Nebencharakter in meinem eigenen Leben. Ein ironischer Fußnotenbewohner auf der Bühne des Daseins.

Dann lacht er, kurz, scharf, ein wenig zu laut. Denn er weiß: Das klingt fast schon wie eine Pose. Und für einen Moment blitzt Hoffnung auf. Vielleicht kann er damit arbeiten. Vielleicht ist das endlich die Version seiner selbst, die interessant ist. Der Mann, der sein wollte, was er nie war, und darüber zum Kultobjekt wurde.

Aber auch das bleibt Wunschdenken. Denn sobald er es versucht, kippt es wieder ins Bemühte. Und Julian bleibt, was er ist: Ein Mensch, der anders sein will, aber leider, leider!, ist, wie er ist.

Eine kleine Philosophie des Ungenügens

Julian hat Sartre gelesen. Oder zumindest ein Zitat auf einem Jutebeutel: „Der Mensch ist das, wozu er sich macht.“ Julian runzelt die Stirn. Er macht sich dauernd zu etwas, aber es wird nie etwas daraus.

Vielleicht, denkt er, wäre Kafka der Richtige. Kafka hatte Verständnis für das Unbeholfene, das Unfertige. Bei ihm durften Menschen noch Käfer sein. Eine große Erleichterung! Wenn die Metamorphose bereits in einen Käfer führt, kann man sich viel Coachinggeld sparen.

Epilog: Der stille Triumph der Mittelmäßigkeit

Es gibt eine Würde im Scheitern, heißt es. Und Julian hat sie perfektioniert. Sein „Ich“ ist ein Running Gag ohne Pointe, ein langsames Brennen im Kamin des Zeitgeists. Vielleicht, eines Tages, wird er begreifen: Nicht die Verwandlung ist der Sieg, sondern die Absurdität des Versuchs. Und dass ein Leben im ständigen Streben nach Anderssein auch eine Art von Beständigkeit ist, eine Leistung, die niemand wirklich honoriert, aber viele im Stillen vollziehen.

Bis dahin sitzt er weiter da, den Espressolöffel zwischen Zeigefinger und Daumen balancierend, und denkt: „Vielleicht sollte ich doch Yoga machen. Oder ein Start-up gründen. Oder nach Portugal ziehen.“

Und dann seufzt er. Denn er weiß: Auch das hätte ein anderer getan.

20 Dinge, die Julian tut, um endlich ein anderer zu werden

(Und warum sie nicht helfen)

  1. Journaling. Erkenntnis: Er langweilt sich auch schriftlich.
  2. Cold Plunges. Ergebnis: Schüttelfrost mit narzisstischer Würde.
  3. Silent Retreat. Ergebnis: Gähnen als spirituelle Erfahrung.
  4. Onlinekurs „Schattenarbeit“. Ergebnis: Sein Schatten wäre auch lieber ein anderer.
  5. TikTok-Account mit „Ehrlichen Gedanken“. Ergebnis: 3 Views, 2 davon von ihm selbst.
  6. Kleiderschrank radikal ausgemistet. Ergebnis: Sieht jetzt aus wie ein depressiver Architekt.
  7. Statt „Hallo“ nun: „Namasté“. Ergebnis: Niemand grüßt zurück.
  8. Reise zu sich selbst in Brandenburg. Ergebnis: Verlaufen.
  9. Adoptiert eine Zimmerpflanze. Ergebnis: Pflanze stirbt an Überbetreuung.
  10. Polyamorie begonnen. Ergebnis: Alle Beteiligten wünschen sich Monogamie, aber mit jemand anderem.
  11. Notizkalender für „Big Ideas“. Ergebnis: Eintrag: „Mehr Wasser trinken.“
  12. Digitalfasten. Ergebnis: Liest wieder Verpackungstexte.
  13. Didgeridoo gekauft. Ergebnis: Wird verklagt (Ruhestörung).
  14. Wechselt zum Duzen. Ergebnis: Wird gesiezt.
  15. Verfasst ein Gedicht über das Gefühl, nicht dazuzugehören. Ergebnis: Wird für Clueso gehalten.
  16. Bucht einen Workshop „Vision & Purpose“. Ergebnis: Hat danach weder Vision noch Purpose.
  17. Beginnt den Tag mit Yoga. Ergebnis: Rückenschmerzen und spirituelle Scham.
  18. Urban Gardening. Ergebnis: Seine Tomaten wachsen traurig schräg.
  19. Essay über das eigene Scheitern. Ergebnis: Wird für Satire gehalten.
  20. Liest diesen Text. Ergebnis: Fühlt sich ertappt. Lacht. Und bleibt trotzdem er selbst.
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