„Ich habe es bereits beschrieben, dass aus der griechischen Philosophie, dem Recht Roms und dem Glauben Israels, der sowohl das alte Judentum wie das Christentum meint, das Europa der vergangenen 2.000 Jahre entstanden ist.“ Gerald Grosz: Merkels Werk – Unser Untergang.
Schon in diesem Satz liegt mehr Wahrheit über die geistige DNA unseres Kontinents als in allen Hochglanzbroschüren der Europäischen Union zusammengenommen. Wer genauer hinhört, entdeckt die eigentliche Tragödie der Gegenwart: Europa weiß nicht mehr, wer es ist, und weil es nicht mehr weiß, wer es ist, will es sich auch nicht mehr sein. Drei Quellen sind es, die zusammenflossen: die griechische Philosophie, die mit ihrem Fragen, Zweifeln, Dialektisieren den Menschen überhaupt erst in die Lage versetzte, über sich selbst hinauszudenken; das römische Recht, nüchtern, systematisch, ein universales Ordnungsprinzip, das die Idee brachte, Regeln über den Willen des Einzelnen zu stellen; und der Glaube Israels, der das alte Judentum wie das Christentum umfasst, und den Gedanken einer transzendenten Verantwortung begründete, einer Instanz, die größer ist als jede irdische Macht. Ohne diese drei Säulen gäbe es keine Vorstellung von unveräußerlicher Würde, keine Idee, dass der Mensch mehr ist als ein biologisches Bündel von Bedürfnissen. Und doch wird dieses Bauwerk in der Gegenwart gern so dargestellt, als sei es bestenfalls eine Ruine, schlimmstenfalls ein Gefängnis.
„Das selbst fälschlicherweise als grau, dunkel beschriebene Mittelalter war ein wahres Leuchtfeuer des Wissens.“ Gerald Grosz: Merkels Werk – Unser Untergang.
Schon dieser Satz widerspricht der bequem gepflegten Legende, das Mittelalter sei ein einziger schwarzer Fleck gewesen zwischen Antike und Neuzeit. In Wahrheit wurden dort die Universitäten gegründet, wurden Kathedralen gebaut, wurde das aristotelische Denken mit theologischen Fragen verschränkt. Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Hildegard von Bingen – sie alle wären irritiert, sähen sie, wie man ihre Zeit zur Epoche des Stillstands degradiert. Doch hier zeigt sich ein Muster: Europa neigt dazu, sich in seiner Geschichte kleiner zu machen, als es ist. Wo andere Kontinente stolz ihre Mythen pflegen, pflegt Europa das Ressentiment gegen die eigene Vergangenheit. Die „finsteren Jahrhunderte“ sind weniger historische Realität als Projektionsfläche für eine Gegenwart, die sich selbst als überlegen betrachtet – und dabei vergisst, dass sie auf den Schultern jener „Finsternis“ steht
„Viel zu viele Menschen vergessen dies, vegetieren regelrecht in Raum und Zeit vor sich hin, anstatt die Basis, also die Kultur, die darauf bauenden Werte, die darin gewachsene Identität unseres europäischen Daseins als allumfassenden und sinnstiftenden Lebensraum zu verstehen.“ Gerald Grosz: Merkels Werk – Unser Untergang.
Das klingt fast nach einem medizinischen Befund, und vielleicht ist es das auch. Eine geistige Demenz hat sich breitgemacht. Man lebt, arbeitet, konsumiert, aber ohne kulturelle Tiefenschärfe, ohne geschichtliche Verortung. Das, was einst als selbstverständlich galt – die Kenntnis der eigenen Traditionen, der Stoffe und Gestalten, die Europa prägten –, wird heute als elitär belächelt oder als überholt abgetan. Das Ergebnis ist eine Gegenwart, die auf Sicht fährt, die keine größeren Horizonte kennt. Wenn man im 13. Jahrhundert eine Kathedrale begann, wusste man, dass die Fertigstellung mehrere Generationen dauern würde. Heute gilt ein politisches Projekt als gescheitert, wenn es nach drei Monaten keine messbaren Ergebnisse vorweist. Zeit ist zum Takt der Schlagzeilen geschrumpft, Raum zum Maßstab des eigenen Komforts.
Es wäre zu einfach, einen äußeren Feind verantwortlich zu machen. Niemand zwingt die Europäer, ihr kulturelles Gedächtnis zu verlieren. Es ist eine freiwillige Entscheidung. Man wirft das Überkommene ab wie eine lästige Haut, ohne zu bedenken, dass genau diese Haut den Körper einst geschützt hat. Europa hat die fatale Angewohnheit, sich selbst zu dekonstruieren: im Namen der Offenheit wird die eigene Gestalt geleugnet, wer sagt, Europa habe eine Identität, gilt schnell als verdächtig; im Namen der Vielfalt wird das Gemeinsame relativiert, bis es gar nicht mehr sichtbar ist; im Namen des Fortschritts wird jede Bindung an Vergangenheit als Rückschritt diskreditiert. So wird aus einer stolzen Geschichte eine Schuldgeschichte, aus einem geistigen Erbe eine Last.
Die Folgen sind unübersehbar. Eine Gesellschaft, die ihre Ursprünge verdrängt, verliert ihre Kontur. Was bleibt, ist ein amorphes Gebilde, anfällig für modische Strömungen. Ideologien füllen das Vakuum: technokratische Visionen, die den Menschen auf Datenpunkte reduzieren; identitätspolitische Debatten, die das Gemeinsame zersetzen; ökonomische Sachzwänge, die den Wert von allem und jedem in Profitmaßstäben bemessen. Ohne die Tiefe der Tradition verliert Freiheit ihren Halt und wird zur bloßen Willkür. Ohne die römische Ordnung wird Recht zur Bürokratie, zur endlosen Vorschriftenmaschinerie. Ohne den religiösen Impuls wird der Mensch zum Konsumenten, der von „Selbstverwirklichung“ spricht, aber im Grunde nur sich selbst verdaut.
Dabei ginge es gar nicht darum, ein museales Europa zu errichten. Erinnerung ist keine Restauration. Erinnerung bedeutet, sich bewusst zu sein, dass man nicht bei Null beginnt. Wer weiß, dass die Philosophen der Antike die Grundlagen des Denkens legten, wird in seinen eigenen Fragen tiefer graben. Wer weiß, dass das römische Recht ein Maßstab universaler Gültigkeit sein wollte, wird auch heutige Rechtsfragen mit größerem Ernst behandeln. Wer weiß, dass das Christentum die Vorstellung einer unveräußerlichen Würde geprägt hat, wird den Menschen nicht als bloßes Mittel behandeln. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gestalten. Das klingt banal – und ist doch die elementare Lektion, die unsere Gegenwart vergessen hat.
Am Ende bleibt die simple, aber bittere Wahrheit: Es gibt keinen dauerhaften Wohlstand, keine lebendige Demokratie, keine humane Gesellschaft ohne die stillen, unsichtbaren Fundamente, die Europa tragen. Wer diese Fundamente vergisst, verspielt nicht nur seine Geschichte, sondern auch seine Zukunft. Die Kathedrale Europas steht nicht mehr in Stein, sie steht in der Erinnerung. Wer sie freiwillig preisgibt, wird bald feststellen, dass auch der Wohlstand, die Demokratie, die Freiheit nicht mehr sind als Staub im Wind.