Glück, ein unzuverlässiger Begleiter

I. Einleitung: Das Paradox des Glücksstrebens

Das Streben nach Glück ist eine der fundamentalsten Konstanten menschlicher Existenz. Es durchdringt alle Kulturen, alle Epochen und alle individuellen Lebensentwürfe. Von den antiken Philosophen bis zu den modernen Selbsthilfe-Gurus, von den großen Religionen bis zu den profanen Alltagsweisheiten, die Frage nach dem glücklichen Leben ist die Triebfeder unzähliger Diskurse, Hoffnungen und Anstrengungen. Doch in diesem universellen Streben liegt ein tiefes Paradox verborgen: Je direkter und verbissener wir das Glück jagen, desto flüchtiger und ungreifbarer scheint es zu werden. Es ist, als ob das Glück ein scheues Wild wäre, das sich just in dem Moment entzieht, in dem wir es zu fassen glauben. Diese Erfahrung der Flüchtigkeit, der Unbeständigkeit und letztlich der Unzuverlässigkeit des Glücks ist es, die den Menschen seit jeher in ein Spannungsverhältnis zu seinen eigenen Wünschen und Erwartungen setzt.

Arthur Schopenhauer, der große Pessimist unter den deutschen Philosophen, hat dieses Dilemma in dem prägnanten Satz zusammengefasst: „Das Glück ist keine leichte Sache: es ist sehr schwer, es in uns selbst, und unmöglich es anders wo zu finden.“ In dieser Aphorismus-ähnlichen Feststellung liegt bereits der Kern des Problems: Die Suche nach dem Glück ist eine zutiefst widersprüchliche Unternehmung. Wir suchen es im Außen, in den Gütern, den Ehren, den Beziehungen, doch seine eigentliche Quelle, so Schopenhauer, liegt im Inneren. Aber selbst dort ist es schwer zu finden, denn auch unser Inneres ist ein Ort des steten Wandels, der ungestillten Wünsche und der nagenden Unruhe. Das Glück, so scheint es, ist kein fester Besitz, den man einmal erringt und dann für immer behält. Es ist vielmehr ein unzuverlässiger Begleiter, ein flüchtiger Gast, der kommt und geht, wie es ihm gefällt, und dessen Anwesenheit oft mehr von Zufall und Gnade als von planvollem Handeln abzuhängen scheint.

Dieser Essay unternimmt den Versuch, die Natur dieser Unzuverlässigkeit zu ergründen. Er wird nachzeichnen, wie die Philosophie von der Antike bis zur Moderne mit dem Problem der Glücksunbeständigkeit gerungen hat. Er wird aufzeigen, wie die Literatur in ihren vielfältigen Formen, von der antiken Tragödie über die mittelalterliche Allegorie bis zum modernen Roman, die launische Natur des Glücks in unvergesslichen Bildern und Geschichten eingefangen hat. Und er wird schließlich fragen, welche Strategien des Umgangs mit dieser fundamentalen Unzuverlässigkeit entwickelt wurden, nicht um das Glück zu zähmen oder zu garantieren, sondern um mit seiner Flüchtigkeit leben zu lernen, ohne in Zynismus oder Verzweiflung zu verfallen. Die These, die diesen Essay leitet, ist, dass das Glück nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Unzuverlässigkeit eine zentrale Rolle in unserem Leben spielt. Es ist ein Begleiter, der uns immer wieder verlässt, aber dessen flüchtige Gegenwart unserem Dasein erst die Tiefe, die Sehnsucht und die Schönheit verleiht, die es ohne ihn nicht hätte.

II. Die philosophischen Grundlagen der Glücksunbeständigkeit

Die Auseinandersetzung mit der Unbeständigkeit des Glücks ist so alt wie die Philosophie selbst. Bereits in der Antike, die oft als Wiege der europäischen Glücksethik gilt, finden sich tiefgreifende Reflexionen über die prekäre Natur des menschlichen Glücks. Die großen Denker Griechenlands und Roms waren sich der Tatsache schmerzlich bewusst, dass das Leben des Menschen den Launen des Schicksals und der Unberechenbarkeit der äußeren Umstände unterworfen ist. Ihre Glückskonzeptionen sind daher nicht als naive Anleitungen zum permanenten Glückszustand zu verstehen, sondern als anspruchsvolle Versuche, dem Glück eine Form zu geben, die der Unbeständigkeit des Lebens standhält, oder sie zumindest erträglich macht.

A. Antike Glückskonzeptionen und ihre Grenzen

Aristoteles, dessen Nikomachische Ethik als das grundlegende Werk der abendländischen Glücksphilosophie gelten kann, definiert das Glück (Eudaimonia) als das höchste Gut, als das Ziel, um dessentwillen alles andere erstrebt wird. Für ihn ist Glück keine passive Empfindung, sondern eine „Tätigkeit der Seele gemäß der vollkommenen Tugend“. Es ist ein Leben, das der Vernunft und der moralischen Exzellenz gewidmet ist. Doch selbst dieser auf das Innere, auf die Haltung und das Handeln des Menschen ausgerichtete Glücksbegriff ist bei Aristoteles nicht völlig immun gegen die Wechselfälle des Schicksals. Er räumt ein, dass zu einem vollkommenen Glück auch äußere Güter wie Gesundheit, ein gewisses Maß an Wohlstand, Freunde und eine funktionierende politische Gemeinschaft gehören. Ein Mensch, der von schweren Krankheiten geplagt, von Armut niedergedrückt oder von politischen Wirren heimgesucht wird, kann nach Aristoteles nur schwerlich zur vollen Entfaltung seiner tugendhaften Tätigkeit und damit zum Glück gelangen. Das Glück ist also auch bei ihm von der „Gunst der Umstände“ abhängig und somit prinzipiell unbeständig.

Die hellenistischen Philosophen, allen voran Epikur, versuchten, das Glück stärker vom Außen unabhängig zu machen. Epikur definierte die Lust als das höchste Gut, meinte damit aber nicht die zügellose Befriedigung aller Begierden, sondern einen Zustand der Schmerzlosigkeit (Aponia) und der Seelenruhe (Ataraxia). Das epikureische Glücksideal ist ein Zustand der inneren Ausgeglichenheit, der durch die Befriedigung der notwendigen und natürlichen Bedürfnisse und die Vermeidung unnötiger und schädlicher Begierden erreicht wird. Doch auch dieser hedonistische Ansatz kann die Unbeständigkeit des Glücks nicht vollständig bannen. Die Lust selbst ist ein flüchtiges Phänomen, und die Befriedigung eines Wunsches führt unweigerlich zur Entstehung eines neuen. Das epikureische „hedonistische Kalkül“, das eine kluge Abwägung von Lust und Unlust fordert, ist ein ständiger Balanceakt, der immer wieder von unvorhergesehenen Schmerzen und Enttäuschungen durchkreuzt werden kann. Die Seelenruhe bleibt ein fragiles Gut, das ständig neu errungen werden muss.

Die Stoiker gingen in ihrem Versuch, das Glück gegen das Schicksal zu immunisieren, am weitesten. Für sie liegt das Glück allein in der Tugend, in der Übereinstimmung des eigenen Willens mit der vernünftigen Ordnung des Kosmos. Alles Äußere, Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut, Leben und Tod, gilt ihnen als „Adiaphora“, als moralisch gleichgültig. Der stoische Weise ist derjenige, der sein Glück allein in seiner inneren Haltung findet und von den Wechselfällen des Schicksals unberührt bleibt. Doch diese radikale Immunisierungsstrategie hat ihren Preis: Sie erfordert eine emotionale Distanzierung von der Welt und den Mitmenschen, die an die Grenzen des menschlich Möglichen geht. Die stoische Ataraxia, die unerschütterliche Seelenruhe, droht in Apathie umzuschlagen. Die Unzuverlässigkeit des Glücks wird hier nicht überwunden, sondern durch eine radikale Abwertung alles dessen, was das Glück gefährden könnte, umgangen.

B. Schopenhauers pessimistische Glücksphilosophie

Einen radikalen Bruch mit den antiken Glücksverheißungen vollzieht Arthur Schopenhauer. Für ihn ist die Unbeständigkeit des Glücks kein bloßes Randproblem, sondern das Wesen des Glücks selbst. Seine Philosophie ist eine einzige große Absage an die Möglichkeit eines dauerhaften, positiven Glücks in dieser Welt. Schopenhauer kehrt die traditionelle Perspektive um: Nicht das Glück ist das Normale und das Leid die Ausnahme, sondern umgekehrt. Das Leben ist seinem Wesen nach Leiden, und das Glück ist nichts anderes als die vorübergehende Abwesenheit von Schmerz. „Alles Glück“, so Schopenhauer, „ist negativer Natur“, es ist „nur die Befriedigung eines Wunsches, die Aufhebung einer Entbehrung, die Stillung eines Schmerzes.“

Diese negative Definition des Glücks hat weitreichende Konsequenzen. Wenn Glück nur die Negation von Leid ist, dann kann es niemals ein dauerhafter Zustand sein. Denn das Leben, angetrieben vom blinden, unaufhörlichen Willen, ist ein endloser Kreislauf von Wünschen, Befriedigungen und neuen Wünschen. „Der rasche Übergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch macht das Glück aus“, schreibt Schopenhauer. Doch da „keine Befriedigung dauernd, sondern nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens ist“, ist dieses Glück von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es ist ein ständiges Haschen nach etwas, das sich im Moment des Ergreifens bereits wieder verflüchtigt. Das Glück ist eine „Chimäre“, ein „Trugbild“, das uns die Illusion in der Ferne zeigt, während das Leiden die einzige unmittelbare und unzweifelhafte Realität ist.

Schopenhauer entlarvt das menschliche Glücksstreben als ein „Arkadien-Syndrom“. „In Arkadien geboren sind wir alle“, so notiert er in seinem Manuskriptbuch, „d. h. wir treten in die Welt voll Ansprüche auf Glück und Genuß, und bewahren die thörichte Hoffnung solche durchzusetzen, bis das Schicksal uns unsanft packt und uns zeigt, daß nichts unser ist, sondern alles sein“. Diese ursprüngliche, naive Erwartungshaltung ist die Quelle unzähliger Enttäuschungen. Die Erfahrung lehrt uns, dass das Glück eine Illusion ist und dass das Beste, was wir auf dieser Welt finden können, „eine schmerzlose, ruhige Gegenwart“ ist. Schopenhauers Lebensweisheit ist daher keine Anleitung zum Glücklichwerden, sondern eine Strategie zur Leidensvermeidung. „Der Thor läuft den Genüssen des Lebens nach und sieht sich betrogen: der Weise vermeidet die Uebel.“ Es ist eine zutiefst pessimistische, aber auch realistische Philosophie, die die Unzuverlässigkeit des Glücks nicht nur konstatiert, sondern sie zum Ausgangspunkt aller Lebens erklärt.

III. Literarische Manifestationen der Glücksunbeständigkeit

Die Philosophie ist nicht das einzige Medium, in dem die Unzuverlässigkeit des Glücks verhandelt wird. Die Literatur, mit ihrer Fähigkeit, abstrakte Ideen in konkrete Schicksale und sinnliche Bilder zu übersetzen, hat sich seit jeher der launischen Natur des Glücks angenommen. Sie hat Figuren geschaffen, die am Glück zerbrechen, die es vergeblich jagen oder die in seiner Flüchtigkeit eine tiefere Wahrheit über das Leben entdecken. Von der antiken Tragödie bis zum modernen Roman ist die Literatur ein reicher Fundus an Erzählungen über die Unbeständigkeit des menschlichen Glücks.

A. Die Fortuna-Tradition: Glück als launische Göttin

Eine der wirkmächtigsten literarischen und ikonographischen Traditionen zur Darstellung der Unbeständigkeit des Glücks ist die der Fortuna. Die römische Göttin des Glücks und des Schicksals ist keine gütige Spenderin von Gaben, sondern eine launische, unberechenbare Macht. Sie wird oft mit einem Füllhorn in der einen und einem Steuerruder in der anderen Hand dargestellt, um ihre Fähigkeit zu symbolisieren, sowohl Reichtum zu spenden als auch das Leben der Menschen in eine unvorhergesehene Richtung zu lenken. Ihr bekanntestes Attribut ist jedoch das Rad, das „Rad der Fortuna“, das die ständige Veränderung des menschlichen Schicksals versinnbildlicht. Wer heute oben auf dem Rad thront, kann morgen schon zuunterst liegen. Das Glück ist ein ständiges Auf und Ab, ein unaufhörlicher Wechsel von Gelingen und Scheitern, von Aufstieg und Fall.

Im Mittelalter wurde die heidnische Fortuna-Figur in ein christliches Weltbild integriert. Sie wurde zur Dienerin der göttlichen Vorsehung, deren scheinbar willkürliches Walten letztlich einem höheren, unergründlichen Plan folgt. Doch auch in dieser christianisierten Form behielt Fortuna ihre unheimliche, unberechenbare Seite. In der Literatur des Mittelalters und der Renaissance ist sie allgegenwärtig. Sie ist die „Fortuna Bifrons“, die doppelgesichtige Göttin, die mit der einen Hand gibt und mit der anderen nimmt. Sie ist die treibende Kraft in den Tragödien von Aufstieg und Fall, die das Schicksal von Königen und Helden bestimmen.

Eine der eindrücklichsten literarischen Auseinandersetzungen mit der Fortuna-Thematik findet sich in Boethius’ „Consolatio Philosophiae“ (Trost der Philosophie). Der spätantike Philosoph, der unschuldig im Kerker sitzt und auf seine Hinrichtung wartet, klagt die Göttin Fortuna für sein Unglück an. Daraufhin erscheint ihm die personifizierte Philosophie und belehrt ihn über die wahre Natur des Glücks. Sie zeigt ihm, dass das Glück, das Fortuna gewährt, Reichtum, Macht, Ehre,, seinem Wesen nach unbeständig und trügerisch ist. Das wahre Glück, so die Lehre der Philosophie, liegt nicht in den äußeren Gütern, sondern in der inneren Tugend, in der Erkenntnis des höchsten Gutes, das mit Gott identisch ist. Boethius’ Werk ist ein eindringliches Plädoyer für die Unterscheidung zwischen dem unzuverlässigen, äußeren Glück und dem beständigen, inneren Glück, das allein in der Philosophie und im Glauben zu finden ist.

B. Deutsche Literatur und die Reflexion der Unbeständigkeit

Auch die deutsche Literatur ist reich an Beispielen für die Auseinandersetzung mit der Unbeständigkeit des Glücks. Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Unbeständigkeit“ aus seiner frühen Sturm-und-Drang-Zeit ist ein lyrisches Zeugnis der Flüchtigkeit von Liebe und Glück. Das lyrische Ich preist die Schönheit des Augenblicks, die Freude am Wechsel und die Freiheit von dauerhafter Bindung. Doch unter der Oberfläche dieser lebensbejahenden Haltung schwingt bereits die Ahnung mit, dass diese Unbeständigkeit auch eine Quelle des Leidens sein kann. Die Unfähigkeit, das Glück festzuhalten, ist der Preis für die Intensität des Moments.

Die Weimarer Klassik, die von Goethe und Schiller geprägt wurde, suchte das Glück in der Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft, von Neigung und Pflicht. Das Glück wird hier zu einer ästhetischen und ethischen Kategorie, die in der vollendeten Form des Kunstwerks und im moralisch vollkommenen Handeln des Menschen aufscheint. Doch auch dieses hohe Ideal ist stets gefährdet. Schillers Dramen sind voll von Helden, die an der Unvereinbarkeit ihrer Ideale mit der schnöden Wirklichkeit scheitern. Das Glück bleibt eine ferne Verheißung, die in der realen Welt nur selten und nur für kurze Augenblicke eingelöst wird.

Die Romantik schließlich radikalisiert die Glücksskepsis. Das Glück wird zur „blauen Blume“, zu einem Symbol der unstillbaren Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Die romantischen Helden sind oft zerrissene, melancholische Gestalten, die in der profanen bürgerlichen Welt kein Glück finden können. Sie flüchten sich in die Natur, in die Kunst, in die Welt des Traums und des Wahnsinns. Das Glück ist für sie kein Zustand, der in dieser Welt zu verwirklichen ist, sondern ein transzendentes Ziel, das immer in der Ferne leuchtet und die Seele in einer ständigen, schmerzlich-süßen Bewegung hält. Die Unzuverlässigkeit des Glücks wird hier nicht mehr als Mangel empfunden, sondern als Wesensmerkmal einer Welt, die prinzipiell unzureichend ist. Die Sehnsucht nach dem Glück wird wichtiger als das Glück selbst.

IV. Die Anatomie der Unzuverlässigkeit

Um die Unzuverlässigkeit des Glücks in ihrer ganzen Tiefe zu verstehen, genügt es nicht, die philosophischen und literarischen Zeugnisse zu sammeln. Es bedarf einer genaueren Analyse der inneren Struktur des Glücks, einer „Anatomie der Unzuverlässigkeit“. Diese zeigt, dass die Flüchtigkeit des Glücks keine zufällige oder behebbare Eigenschaft ist, sondern in seinem Wesen selbst begründet liegt. Zwei Faktoren sind hierbei von zentraler Bedeutung: die Zeitlichkeit des Glücks und seine Abhängigkeit von äußeren Faktoren.

A. Zeitlichkeit als Grundproblem des Glücks

Das Glück ist ein zutiefst zeitliches Phänomen. Es existiert nur im Augenblick. Wir können uns an vergangenes Glück erinnern und auf zukünftiges Glück hoffen, aber wir können Glück nur in der Gegenwart erfahren. Diese Momenthaftigkeit ist die Quelle seiner Intensität, aber auch seiner unentrinnbaren Flüchtigkeit. Der glückliche Augenblick ist per definitionem ein vorübergehender. Er hebt sich aus dem Strom der Zeit heraus, aber er wird unweigerlich von ihm fortgespült. Der Versuch, das Glück festzuhalten, es zu konservieren und zu einem dauerhaften Zustand zu machen, ist zum Scheitern verurteilt. Er widerspricht der Natur der Zeit und der Natur des Glücks selbst.

Darüber hinaus wird unser Glücksempfinden ständig von der Erinnerung und der Erwartung korrigiert. Das erinnerte Glück erscheint oft in einem verklärten Licht, es wird zu einem verlorenen Paradies, das die Gegenwart unweigerlich in den Schatten stellt. Das erwartete Glück hingegen wird mit so hohen Hoffnungen und Phantasien aufgeladen, dass die Realität fast immer enttäuschen muss. Schopenhauer hat diesen Mechanismus treffend beschrieben: „Glück und Genuß bloße Chimären sind, die eine Illusion uns in der Ferne zeigt“. Wir leben selten ganz in der Gegenwart. Unsere Glücksbilanz wird ständig durch den Vergleich mit der Vergangenheit und die Projektion in die Zukunft getrübt. Das Glück des Augenblicks wird zwischen der Nostalgie für das, was war, und der Sorge um das, was kommen wird, zerrieben.

Schließlich ist auch das Glücksempfinden selbst relativ. Wir gewöhnen uns an das Glück. Was uns heute als Gipfel der Glückseligkeit erscheint, wird morgen zur Gewohnheit und übermorgen zur langweiligen Normalität. Um das gleiche Maß an Glück zu empfinden, bedarf es einer ständigen Steigerung der Reize. Dieses Phänomen, das in der modernen Glücksforschung als „hedonistische Tretmühle“ bezeichnet wird, war bereits den antiken Philosophen bekannt. Es ist ein weiterer Grund, warum das Glück kein stabiler Zustand sein kann. Es ist ein dynamischer Prozess, der ständig neue Nahrung braucht und der bei ausbleibender Steigerung unweigerlich in Gleichgültigkeit oder Unzufriedenheit umschlägt.

B. Die Abhängigkeit von äußeren Faktoren

So sehr die Philosophen auch versucht haben, das Glück nach innen zu verlegen und es von den äußeren Umständen unabhängig zu machen, so unbestreitbar bleibt doch seine Abhängigkeit von einer Vielzahl von Faktoren, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Aristoteles hat es bereits eingestanden: Ohne ein gewisses Maß an Gesundheit, Wohlstand und sozialer Anerkennung ist ein glückliches Leben kaum möglich. Diese Güter sind jedoch prekär. Die Gesundheit kann jederzeit von Krankheiten zerstört werden, der Reichtum durch unglückliche Zufälle verloren gehen und die soziale Stellung durch den Neid der Mitmenschen oder die Wechselfälle der Politik untergraben werden.

Das Schicksal, die antike Fortuna, hat auch in der modernen, aufgeklärten Welt nichts von seiner Macht verloren. Unfälle, Naturkatastrophen, wirtschaftliche Krisen, politische Umwälzungen, all diese unberechenbaren Ereignisse können von einem Moment auf den anderen die Grundlagen unseres Glücks zerstören. Die Vorstellung, unser Glück vollständig in der eigenen Hand zu haben, ist eine Illusion der Selbstüberschätzung. Wir sind und bleiben verletzliche, abhängige Wesen, deren Wohlergehen von einem komplexen Geflecht von Umständen abhängt, die wir nur zu einem kleinen Teil beeinflussen können.

Zu den äußeren Faktoren, die unser Glück bedrohen, gehört aber nicht nur das blinde Schicksal, sondern auch das soziale Umfeld. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und sein Glück hängt in hohem Maße von der Anerkennung und Zuneigung seiner Mitmenschen ab. Doch gerade diese Abhängigkeit macht ihn verletzlich. Der Vergleich mit anderen ist eine der größten Glückszerstörer. „Der Neid“, so Schopenhauer, „ist der Feind unseres Glückes“. Wir neigen dazu, unser Glück nicht an unseren eigenen Bedürfnissen und Werten zu messen, sondern an dem, was andere zu haben oder zu sein scheinen. Diese ständige soziale Vergleicherei führt zu Unzufriedenheit, Missgunst und einem unaufhörlichen Streben nach mehr, das niemals zur Ruhe kommt. Das Glück wird zu einem Wettbewerb, in dem es immer nur relative Gewinner und viele Verlierer gibt.

V. Strategien des Umgangs mit der Unzuverlässigkeit

Angesichts der tief in der Natur des Glücks und des menschlichen Lebens verankerten Unzuverlässigkeit stellt sich die Frage, wie wir mit dieser fundamentalen Unsicherheit umgehen können. Die Geschichte der Philosophie und der Literatur ist auch eine Geschichte der Versuche, Bewältigungsstrategien zu entwickeln, nicht um das Glück zu garantieren, sondern um mit seiner Flüchtigkeit zu leben, ohne daran zu zerbrechen. Diese Strategien reichen von der radikalen Abkehr vom Glücksstreben bis zur subtilen Kunst, dem flüchtigen Augenblick eine Form von Dauer abzugewinnen.

A. Philosophische Bewältigungsversuche

Die philosophischen Antworten auf die Unzuverlässigkeit des Glücks lassen sich grob in drei Hauptstrategien unterteilen: die Vermeidung des Leidens, die Selbstbeschränkung und die Konzentration auf das Kontrollierbare. Schopenhauers Lebensweisheit ist das prominenteste Beispiel für die erste Strategie. Wenn positives, dauerhaftes Glück eine Illusion ist, dann ist es vernünftig, seine Lebensführung nicht auf das Erreichen dieses unerreichbaren Ziels auszurichten, sondern auf die Vermeidung des realen und allgegenwärtigen Leidens. „Um nicht sehr unglücklich zu werden“, so sein Rat, „ist das sicherste Mittel, dass man nicht verlange, sehr glücklich zu sein.“ Diese pessimistische Klugheit empfiehlt eine Reduktion der Ansprüche, eine Begrenzung der Wünsche und eine generelle Skepsis gegenüber allen großen Glücksverheißungen. Es ist eine Strategie des Rückzugs und der Defensive, die das kleine, schmerzlose Glück dem großen, aber trügerischen Glück vorzieht.

Die epikureische Philosophie vertritt die Strategie der Selbstbeschränkung. Auch hier geht es um eine kluge Auswahl der Wünsche, aber nicht aus einer pessimistischen Grundhaltung heraus, sondern aus der hedonistischen Einsicht, dass nicht jede Lust auf lange Sicht zum Glück führt. Epikur unterscheidet zwischen den natürlichen und notwendigen Begierden (wie Essen und Trinken), den natürlichen, aber nicht notwendigen (wie sexuelle Lust) und den nichtigen (wie Ruhm und Reichtum). Der weise Mensch beschränkt sich auf die Befriedigung der ersten Kategorie, geht mit der zweiten maßvoll um und meidet die dritte gänzlich. Die Kunst der richtigen Wahl (Hairesis) ist der Schlüssel zu einem Leben in Seelenruhe (Ataraxia). Es ist eine Strategie der klugen Selbstregulierung, die das Glück durch eine Reduktion der Komplexität und der Abhängigkeiten zu stabilisieren versucht.

Die stoische Ethik schließlich radikalisiert die Konzentration auf das Kontrollierbare. Für die Stoiker wie Epiktet oder Marc Aurel ist die Welt in zwei Bereiche geteilt: die Dinge, die in unserer Macht stehen (unsere Meinungen, Urteile, Begierden), und die Dinge, die nicht in unserer Macht stehen (unser Körper, unser Besitz, unser Ansehen). Das Glück besteht darin, sich ausschließlich auf den ersten Bereich zu konzentrieren und dem zweiten gegenüber gleichgültig zu sein. Der stoische Weise ist derjenige, der sein inneres Reich, seine „Hegemonikon“, vollständig unter seine Kontrolle gebracht hat und von den Stürmen der Außenwelt unberührt bleibt. Es ist eine Strategie der inneren Autarkie, die das Glück durch eine radikale Trennung von Innen und Außen zu immunisieren versucht.

B. Literarische Sublimierung

Die Literatur bietet andere, weniger systematische, aber oft lebensnähere Strategien des Umgangs mit der Unzuverlässigkeit des Glücks. Eine der wichtigsten ist die der ästhetischen Sublimierung. Die Kunst hat die Fähigkeit, selbst das schmerzlichste Leiden in eine schöne Form zu verwandeln und es dadurch genießbar zu machen. Die antike Tragödie, so Aristoteles, führt durch die Darstellung von Jammer und Schauder zur „Reinigung“ (Katharsis) von eben diesen Affekten. Der Zuschauer erlebt das Unglück der Helden auf der Bühne und wird dadurch von seinen eigenen Ängsten und Sorgen entlastet. Die ästhetische Erfahrung wird zu einer Art Glücksersatz, zu einer höheren Form der Lust, die aus dem Schmerz selbst gewonnen wird.

Diese Idee der Sublimierung des Leidens durch die Kunst zieht sich durch die gesamte Literaturgeschichte. Die romantische Poesie findet eine „Schönheit der Melancholie“, sie preist den „süßen Schmerz“ der unerfüllten Sehnsucht. Die großen Romane des 19. Jahrhunderts schildern mit epischem Atem das Scheitern ihrer Helden an den gesellschaftlichen Konventionen und den Launen des Schicksals, und gerade in dieser Darstellung des Scheiterns liegt ihre ergreifende Schönheit und ihre tröstliche Kraft. Die Literatur schafft einen Raum, in dem das unzuverlässige Glück und das unvermeidliche Leiden aufgehoben und in eine sinnvolle Ordnung gebracht werden können. Sie bietet keine praktischen Lösungen, aber sie stiftet Sinn und ermöglicht eine emotionale Versöhnung mit den Widersprüchen des Lebens.

VI. Das Glück als unzuverlässiger, aber unverzichtbarer Begleiter

Die bisherige Analyse hat die Unzuverlässigkeit des Glücks von vielen Seiten beleuchtet. Sie hat gezeigt, dass sie in der Natur der Zeit, in unserer Abhängigkeit von äußeren Umständen und in der Struktur unserer eigenen Psyche begründet liegt. Die philosophischen und literarischen Bewältigungsstrategien, so klug und tiefsinnig sie auch sein mögen, können diese fundamentale Unbeständigkeit nicht aufheben. Sie können sie nur erträglicher machen, sie sublimieren oder sie durch eine radikale Abwertung des Glücks umgehen. Führt diese Einsicht also zwangsläufig in die Resignation, in den Zynismus oder in eine schopenhauerische Verneinung des Lebenswillens? Nicht notwendigerweise. Es ist möglich, die Unzuverlässigkeit des Glücks zu akzeptieren und es dennoch als einen unverzichtbaren Bestandteil eines erfüllten Lebens zu begreifen.

A. Die Notwendigkeit der Illusion

Selbst wenn das dauerhafte, vollkommene Glück eine Illusion ist, so ist es doch eine notwendige Illusion. Das Streben nach Glück, die Hoffnung auf ein besseres, erfüllteres Leben, ist eine der wichtigsten Triebfedern menschlichen Handelns. Ohne die Vorstellung eines möglichen Glücks würden wir in Apathie und Tatenlosigkeit versinken. Das Glück fungiert als „regulatives Ideal“, wie es Immanuel Kant in einem anderen Kontext formuliert hat. Es ist ein Ziel, das wir vielleicht niemals vollständig erreichen, das aber unserem Handeln eine Richtung und einen Sinn gibt. Es motiviert uns, uns anzustrengen, Hindernisse zu überwinden, uns weiterzuentwickeln und die Welt zu gestalten.

Die Hoffnung auf Glück ist es, die uns morgens aufstehen und die Mühen des Tages auf uns nehmen lässt. Sie ist es, die uns in schwierigen Zeiten tröstet und uns die Kraft gibt, nicht aufzugeben. Das menschliche Leben spannt sich in einem unauflöslichen Widerspruch zwischen der resignativen Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Leidens und der utopischen Hoffnung auf das mögliche Glück auf. Ohne diese Hoffnung wäre das Leben unerträglich. Die Illusion des Glücks ist also keine bloße Täuschung, sondern eine lebensnotwendige Fiktion, die uns vor der Verzweiflung bewahrt.

B. Die Weisheit der Akzeptanz

Die Einsicht in die Unzuverlässigkeit des Glücks muss nicht in Resignation münden. Sie kann auch zu einer tieferen Weisheit führen, zur Weisheit der Akzeptanz. Diese Weisheit besteht darin, das Glück nicht als ein Recht zu betrachten, das man einfordern kann, oder als ein Ziel, das man planmäßig erreichen muss, sondern als ein Geschenk, das einem unverdient zuteilwird. Wer das Glück als Gnade begreift, der wird nicht verbittert, wenn es ausbleibt, und er wird es umso dankbarer annehmen, wenn es sich einstellt.

Diese Haltung der Akzeptanz ermöglicht es, die „Kunst des Augenblicks“ zu kultivieren. Wenn das Glück nur im Moment existiert, dann ist es töricht, es in der Vergangenheit zu suchen oder in die Zukunft zu verschieben. Die ganze Aufmerksamkeit gilt der Gegenwart, dem Hier und Jetzt. Es geht darum, die kleinen, flüchtigen Glücksmomente des Alltags bewusst wahrzunehmen und zu genießen, ohne sie sofort mit überzogenen Erwartungen zu belasten oder sie an einem unerreichbaren Ideal zu messen. Die Schönheit eines Sonnenuntergangs, das Lächeln eines geliebten Menschen, die Freude an einer gelungenen Arbeit, all diese kleinen Glücksmomente gewinnen an Bedeutung, wenn man sie nicht als Vorboten eines größeren, dauerhaften Glücks missversteht, sondern sie als das nimmt, was sie sind: kostbare, vergängliche Augenblicke.

Aus dieser Haltung der Akzeptanz und der Konzentration auf den Augenblick erwächst eine Praxis der Dankbarkeit. Dankbarkeit ist vielleicht die intelligenteste Antwort auf die Unzuverlässigkeit des Glücks. Sie richtet den Blick nicht auf das, was fehlt, sondern auf das, was da ist. Sie vergleicht das eigene Schicksal nicht mit dem scheinbar glücklicheren Schicksal anderer, sondern würdigt die eigenen, oft für selbstverständlich genommenen Glücksgüter: die Gesundheit, die Freunde, die Freiheit, die einfachen Freuden des Lebens. Die Dankbarkeit verwandelt das Glück von einem flüchtigen Gefühl in eine dauerhafte Haltung. Sie ist die Kunst, auch im unvollkommenen und unbeständigen Leben eine Fülle zu entdecken.

VII. Schluss: Versöhnung mit der Unzuverlässigkeit

Das Glück ist und bleibt ein unzuverlässiger Begleiter. Es ist flüchtig, launisch und unberechenbar. Es hängt von unzähligen Faktoren ab, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, und es wird durch die Struktur unserer eigenen Psyche ständig untergraben. Die großen philosophischen und literarischen Traditionen des Abendlandes haben diese Unzuverlässigkeit immer wieder thematisiert und nach Wegen gesucht, mit ihr umzugehen. Doch keine dieser Strategien kann das Glück garantieren oder seine Unbeständigkeit aufheben. Die Versöhnung mit der Unzuverlässigkeit des Glücks liegt nicht in seiner Überwindung, sondern in einer veränderten Haltung ihm gegenüber.

Die vielleicht wichtigste Einsicht, die aus dieser langen Auseinandersetzung mit dem Glück zu gewinnen ist, lautet: Das Glück ist nicht das Ziel des Lebens, sondern ein Begleiter auf dem Weg. Wer das Glück zum alleinigen Ziel seines Lebens macht, der wird es unweigerlich verfehlen. Er wird zum getriebenen Jäger, der einer Chimäre nachläuft und dabei die Schönheit der Landschaft übersieht, die er durchquert. Wer aber das Glück als einen willkommenen, aber unzuverlässigen Begleiter begreift, der kann sich auf den Weg selbst konzentrieren, auf die Gestaltung eines sinnvollen, tugendhaften und liebenden Lebens. Das Glück wird dann zu einem Nebenprodukt dieses gelingenden Lebens, zu einem Geschenk, das sich einstellt, wenn man es am wenigsten erwartet.

Diese Haltung ermöglicht es auch, die Schönheit des Vergänglichen zu entdecken. Die Unzuverlässigkeit des Glücks ist nur die Kehrseite seiner Kostbarkeit. Gerade weil der glückliche Augenblick flüchtig ist, ist er so intensiv und wertvoll. Die Vergänglichkeit verleiht dem Glück seine Tiefe und seine Leuchtkraft. Eine Welt des permanenten, unveränderlichen Glücks wäre eine Welt ohne Sehnsucht, ohne Hoffnung, ohne Entwicklung, eine Welt des Stillstands und der Langeweile. Die Unzuverlässigkeit des Glücks ist der Stachel, der uns am Leben hält und uns immer wieder antreibt, über uns selbst hinauszuwachsen.

Am Ende steht kein Patentrezept für das glückliche Leben, sondern ein Plädoyer für eine realistische Glücksethik. Eine solche Ethik nimmt Abschied von den überzogenen Glücksansprüchen des „Arkadien-Syndroms“ und akzeptiert die grundlegende Unbeständigkeit des menschlichen Daseins. Sie kultiviert die Dankbarkeit für das, was ist, anstatt dem nachzutrauern, was nicht ist. Sie übt sich in der Kunst des Augenblicks und findet die Fülle im Kleinen. Und sie weiß, dass das Glück ein unzuverlässiger Begleiter ist, aber dass das Leben ohne die flüchtige Berührung seiner Flügel unendlich ärmer wäre.

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