Infantil statt erwachsen

„Die Welt muss sich gefälligst mir anpassen‟

Es gibt Sätze, die man eigentlich nur aus dem Mund eines Dreijährigen erwarten würde, mit klebriger Schokolade um den Mund und trotzig verschränkten Armen. Ich muss mich nicht der Welt anpassen, sondern die Welt sich an mich.“ In der Wiege der Selbstermächtigung klingt das noch niedlich. Doch wehe, wenn der Trotzkopf erwachsen wird und ein Smartphone bekommt. Dann wird aus dem kindlichen Trotz eine Weltanschauung, aus der Lutschpastille ein Manifest.

Heute ist dieser Satz die heimliche Präambel sämtlicher westlicher Gesellschaftsverträge. Er steht unsichtbar in den AGBs der Zivilisation. Man kann ihn überall beobachten, auf der Straße, im Büro, in Talkshows, in der Politik. Es ist das Lebensmotto einer Spezies, die sich von der Evolution emanzipiert hat und nun glaubt, sie könne sich auch von der Realität scheiden lassen.

Die Welt als Serviceleistung

Die Erwachsenen von heute sind keine Menschen mehr, sie sind Kunden, und zwar schlechte. Sie wollen alles, sofort, und mit Rückgaberecht. Die Welt ist ihnen ein Lieferant, der ununterbrochen liefern soll: Sinn, Anerkennung, Unterhaltung, Empörung. Kommt das Paket der Existenz zu spät, wird reklamiert.

Der moderne Mensch betrachtet die Welt wie einen Streamingdienst, in dem jede Unannehmlichkeit ein technischer Fehler ist. Das Wetter? Klimaversagen. Der Nachbar? Grenzverletzung. Das Alter? Biologischer Angriff. Der Tod? Strukturelle Ungerechtigkeit. Und Gott, falls noch vorhanden, ist selbstverständlich verpflichtet, eine Stellungnahme abzugeben.

Diese Haltung ist nicht bloß Infantilität, sie ist institutionalisierte Infantilität. Die moderne Gesellschaft ist eine Art verlängerte Kita, in der jeder seine Befindlichkeit wie eine Bastelarbeit vor sich herträgt und glaubt, er habe Anspruch auf Applaus.

Die Pädagogisierung des Weltgeschehens

Die ach so Mündigen glauben heute, die Welt müsse sie „abholen“. Kein Gedanke daran, selbst irgendwo hinzugehen. Universitäten, Medien, Unternehmen, sie alle sollen „niedrigschwellig“ werden, weil der Bürger sich weigert, auf eine Leiter zu steigen. Bildung soll „Spaß machen“, Politik soll „emotionalisieren“, Wissenschaft soll „verständlich“ sein, und Kunst soll „nicht provozieren“.

Das Erwachsensein, früher eine Zumutung, ist heute eine Zumutung zu viel. Die Welt soll Rücksicht nehmen, auf Empfindlichkeiten, auf Mikrotraumen, auf das „individuelle Erleben“. Wer nicht mitspielt, ist toxisch.

Früher hieß es: „Reiß dich zusammen.“ Heute: „Reiß dich auf, und schütte dein Innenleben in die Öffentlichkeit.“ Jeder Trotzanfall wird zur Selbsterfahrung, jedes Unbehagen zur Diskriminierung.

Die Politik des Ichs

In dieser allgemeinen Infantilisierung feiert eine Ideologie Triumphe, die sich als moralischer Fortschritt tarnt: die Identitätspolitik. Sie hat das „Ich“ zur höchsten Instanz erhoben und das „Wir“ entmündigt.

Was einst als Versuch begann, berechtigte Erfahrungen von Ausgrenzung sichtbar zu machen, ist längst zur Religion des Selbst geworden. Das Ich wird nicht mehr als Teil eines Ganzen verstanden, sondern als verletztes Heiligtum, dem alle anderen zu dienen haben.

Die Identitätspolitik ist die politisierte Form des kindlichen Satzes: „Ich will aber so sein!“, nur mit wissenschaftlicher Terminologie und Hashtag. Jede Gruppe beansprucht ihre eigene Realität, ihre eigene Sprache, ihre eigenen Tabus, und alle zusammen bilden sie kein Gemeinwesen mehr, sondern eine moralische Kleinstaaterei.

Das Gemeinsame, das früher Gesellschaft hieß, wird zersetzt durch das Dauerrecht auf Besonderheit. Solidarität ist passé, Empfindlichkeit regiert. Und wer versucht, den Satz „Wir“ zu sagen, wird verdächtigt, die Einzigartigkeit der anderen zu verletzen.

So zerstört die Identitätspolitik, was sie vorgibt zu verteidigen: den Menschen als soziales Wesen. Aus dem Bürger wird der Betroffene, aus der Gemeinschaft ein Tribunal. Der öffentliche Diskurs gleicht einer Spielwiese voller Einzelbefindlichkeiten, die alle gleichzeitig schreien: „Ich zuerst!“, und keiner merkt, dass der Sandkasten leer wird.

Vom Fortschritt zum Forstschritt

Man könnte diese Entwicklung als harmlosen Spleen einer saturierten Gesellschaft abtun, wenn sie nicht gefährlich wäre. Denn die Infantilisierung ist inzwischen zur Staatsdoktrin geworden. Ganze Regierungen verhalten sich, als hätten sie in der Kita die Verantwortung für den Planeten übernommen. Sie malen Weltrettung mit Wachsmalstiften, kleben sich an den Asphalt und nennen es Verantwortung.

Das ist nicht Idealismus, das ist magisches Denken: Wenn ich die Welt nur lange genug anschreie, wird sie sich verändern. Wenn ich laut genug „Gerechtigkeit!“ rufe, werden die Gesetze der Physik weich.

Die Idee, dass man sich der Welt anpassen muss, also ihrer Härte, Komplexität, Grausamkeit, gilt als reaktionär. Die neue Tugend ist die Forderung, dass die Welt sich gefälligst anschmiegt, wie ein algorithmischer Schmusekater, der die Timeline nach Stimmung kuratiert.

Das Ich als sakrosankter Maßstab

Früher war das Ich ein philosophisches Rätsel, heute ist es eine Marke. Man investiert in Authentizität wie in Aktien. Und wehe, jemand bezweifelt den Wert! Die ganze Gesellschaft hat sich in einen Spiegelraum verwandelt, in dem jeder nur noch sich selbst betrachtet und dabei ruft: „Seht, wie echt ich bin!“

Diese narzisstische Massenbewegung hat nichts Heroisches. Sie ist, in ihrem Kern, zutiefst regressiv. Die Welt soll mich verstehen, bestätigen, spiegeln, trösten. Und wenn sie es nicht tut, ist sie feindlich.

Man hat das Gefühl, die Zivilisation befinde sich in einer kollektiven Trotzphase. Der Unterschied: Damals im Kinderzimmer wurde der Wille noch durch elterliche Autorität gebrochen. Heute ist keine Autorität mehr da, außer dem Algorithmus, der uns zärtlich einflüstert: „Du hast recht, die Welt liegt falsch.“

Therapie als Staatsform

Die Infantilität zeigt sich besonders in der Sprache. Überall „Trigger“, „Safe Spaces“, „toxisch“, „verletzend“. Das Vokabular der Psychotherapie ist zur Amtssprache geworden. Nicht mehr die Polis steht im Zentrum, sondern das Befinden des Bürgers.

Die Demokratie, einst eine Arena des Konflikts, wird zur Gruppentherapie. Politik ist keine Auseinandersetzung mehr, sondern eine gemeinsame Selbstheilung. Die Frage lautet nicht mehr: „Was ist wahr?“, sondern: „Wie fühlst du dich dabei?“

Manchmal möchte man den ganzen Apparat schütteln und rufen: „Du bist nicht verletzt, du bist nur anderer Meinung!“, Aber selbst das wäre ein Übergriff, ein „emotionaler Missbrauch“. Also schweigt man, lächelt und reicht Taschentücher.

Der Ernst des Lebens als Kränkung

Der infantile Erwachsene erträgt keine Widrigkeit. Jede Konfrontation mit der Realität wird als Kränkung empfunden. Man könnte fast sagen, dass die Gegenwart eine Kränkungskultur ist: Sie lebt davon, dass man sich verletzt fühlt.

Man will das Schwere nicht mehr. Arbeit, Verantwortung, Konsequenzen, das alles gilt als Relikt einer autoritären Vergangenheit. Stattdessen: Selbstverwirklichung, Achtsamkeit, Yoga auf der Dachterrasse.

Der Ernst des Lebens, einst eine Lehrmeisterin, ist heute eine Zumutung, die man mit Coaching wegatmet.

Die Rebellion der Wattebäusche

Es ist eine merkwürdige Ironie: Die Generation, die keine Grenzen akzeptiert, verlangt überall Schutzräume. Die, die keine Autorität duldet, ruft nach Verboten. Die, die Freiheit predigt, kann keine Meinungsverschiedenheit aushalten.

So rebelliert man heute nicht mehr gegen die Ordnung, sondern gegen die Zumutung, dass überhaupt eine existiert. Das Resultat ist eine Gesellschaft der weichen Fronten, die sich selbst zensiert, um niemandem weh zu tun, nicht einmal der Wahrheit.

Der kindliche Satz „Ich will das aber so!“ ist zum moralischen Imperativ geworden. Und niemand wagt zu widersprechen, aus Angst, ein „Unmensch“ zu sein.

Schluss mit dem Kindergarten

Die Welt hat sich nicht anzupassen. Sie ist, wie sie ist: widersprüchlich, unberechenbar, unerziehbar. Wer das nicht erträgt, wird nie erwachsen. Erwachsensein heißt nicht, die Welt zu verändern, bis sie mich liebt, sondern zu begreifen, dass sie es nicht muss.

Vielleicht wäre das die eigentliche Rebellion in unserer Zeit: den Spiegel wegzulegen, aufzuhören zu fühlen, und stattdessen wieder zu denken. Denn wenn eine Gesellschaft glaubt, die Welt müsse sich ihr anpassen, ist sie verloren. Sie hat vergessen, dass sie selbst Teil dieser Welt ist, und dass die Welt kein Kindergarten ist, sondern eine Schule.

Und wer die Schule des Lebens schwänzt, wird am Ende von der Realität nachsitzen müssen.

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