Die Luft erzittert. Nicht vor Kälte, nein, das wäre ja noch normal für einen durchschnittlich apokalyptischen Winter im Herzen Europas. Sie erzittert vor Furcht. Einer Furcht, die so dicht ist, dass man sie mit dem Löffel essen könnte, serviert zum Frühstücksfernsehen und als Betthupferl in den Spätnachrichten. Putin steht vor der Tür. Nicht vor irgendeiner Tür, nein, vor unserer Tür. Der kollektiven Haustür des Westens, und er hat nicht etwa geklingelt, um nach Zucker zu fragen.
Man spürt es in den Supermärkten, wo die Regale mit haltbaren Nudeln und Dosenravioli eine seltsame Leere aufweisen. Ein untrügliches Zeichen. Die Menschen rüsten sich. Nicht für einen weiteren Lockdown, das ist von gestern. Sie rüsten sich für den Einmarsch der russischen Horden, die, so wird uns versichert, jeden Moment durch das Brandenburger Tor reiten werden, auf Bären, versteht sich, und mit grimmigem Blick.
Die Medien, unsere tapferen Wächter der Wahrheit, haben ganze Arbeit geleistet. In täglichen Sondersendungen, garniert mit dramatisch-dröhnender Musik und Kartenmaterial, das aussieht, als hätte es ein Praktikant in einem Anfall von kreativem Wahn auf eine Serviette gekritzelt, wird uns die unmittelbare Gefahr vor Augen geführt. Rote Pfeile, die von Osten nach Westen züngeln wie die Zunge einer Kobra. Panzerdivisionen, die sich angeblich schon im Vorgarten von Warschau warmfahren. Und immer wieder das Gesicht des Oberbösewichts, Wladimir Putin, mal mit diabolischem Grinsen, mal mit eiskaltem Blick, aber immer kurz davor, den roten Knopf zu drücken.
Unsere Politiker, diese Felsen in der Brandung der Desinformation, haben die Zeichen der Zeit erkannt. Mit ernster Miene und rollenden „R“s wird die „Zeitenwende“ beschworen. Es werden Sondervermögen für die Bundeswehr gefordert, die so hoch sind, dass man damit auch die gesamte Weltbevölkerung dreimal zum Essen hätte einladen können. Aber Prioritäten müssen sein. Wer braucht schon Bildung oder funktionierende Krankenhäuser, wenn der Russe vor der Tür steht? Wir brauchen Panzer. Viele Panzer. Und Helme. Vor allem Helme.
In den Talkshows überbieten sich die Experten in ihren düsteren Prophezeiungen. Da sitzt der pensionierte General a.D. von und zu Stramm, der schon im Sandkasten mit Zinnsoldaten den Einmarsch der Russen geübt hat, und erklärt mit bebender Stimme, dass die NATO nur noch „Stunden, vielleicht Minuten“ habe, um zu reagieren. Neben ihm nickt die Sicherheitsexpertin Dr. Dr. Kassandra Ruf, die in jedem russischen Touristen einen potenziellen Schläfer und in jeder Matroschka eine versteckte Bombe wittert. Man müsse, so der einhellige Tenor, endlich „Härte zeigen“. Was das genau bedeutet, bleibt meist im Vagen, aber es klingt unheimlich entschlossen.
Derweil hat die Paranoia den Alltag erreicht. Der Nachbar, der Tschaikowsky hört? Verdächtig. Die Kollegin, die Pelmeni zum Mittag isst? Hochverrat. Der Onkel, der fragt, ob man nicht vielleicht doch mal die diplomatischen Kanäle nutzen sollte? Ein Putin-Versteher, ein Kollaborateur, ein Volksfeind. Die soziale Ächtung ist ihm sicher. Man trägt jetzt wieder „Freiheit statt Wodka“ auf Jutebeuteln und schaut sich argwöhnisch um, ob nicht irgendwo ein Lada parkt.
Die Kinder werden in der Schule bereits auf den Ernstfall vorbereitet. Statt Brandschutzübungen gibt es jetzt „Iwan-kommt“-Drills. Bei Ertönen der Sirene hechten die Kleinen unter ihre Tische und halten sich die Ohren zu, um dem Lärm der anrollenden T-90-Panzer zu entgehen. Im Kunstunterricht werden keine Sonnenblumen mehr gemalt, sondern Tarnmuster. Und im Geschichtsunterricht lernt man, dass Russland schon immer, seit Anbeginn der Zeit, nichts anderes im Sinn hatte, als die freie Welt zu unterjochen.
Doch was, wenn die ganze Aufregung umsonst ist? Was, wenn Putin gar nicht vor unserer Tür steht, sondern gemütlich in seiner Datscha sitzt und Tee trinkt? Was, wenn die roten Pfeile auf den Karten nur die Reiseroute des russischen Staatszirkus sind? Was, wenn die Panzerdivisionen nur für ein Manöver üben, wie man eine besonders hartnäckige Schneeverwehung beseitigt? Eine absurde Vorstellung, gewiss. Eine, die man kaum auszusprechen wagt, ohne als naiv oder, schlimmer noch, als „nützlicher Idiot“ des Kremls abgestempelt zu werden.
Aber vielleicht, nur vielleicht, ist die größte Gefahr nicht der Russe vor der Tür, sondern die Angst in unseren Köpfen. Eine Angst, die uns dazu bringt, Milliarden für Rüstung auszugeben, während die Brücken bröckeln. Eine Angst, die uns dazu bringt, jeden zu denunzieren, der eine andere Meinung hat. Eine Angst, die uns blind macht für die wahren Probleme unserer Zeit.
Und während wir also gebannt nach Osten starren, auf die angebliche Bedrohung, die jeden Moment über uns hereinbrechen soll, merken wir gar nicht, wie im Inneren etwas zerbricht. Die Freiheit, die wir zu verteidigen vorgeben, wird leise und unaufhaltsam demontiert. Im Namen der Sicherheit. Im Namen des Kampfes gegen das Böse. Und wenn wir eines Tages aufwachen und feststellen, dass der Russe nie kam, ist es vielleicht zu spät. Dann haben wir uns selbst besiegt, ganz ohne einen einzigen Schuss.
Aber was weiß ich schon. Ich bin ja nur ein einfacher Bürger, der sich fragt, ob er noch schnell eine Packung Nudeln kaufen sollte. Man kann ja nie wissen. Vielleicht klopft es ja doch gleich an der Tür. Und vielleicht ist es ja wirklich Putin. Und vielleicht will er ja wirklich nur Zucker.
Die Wirtschaft, dieser sonst so nüchterne und auf Zahlen fixierte Sektor, ist ebenfalls im Taumel. Rüstungsaktien schießen durch die Decke, als gäbe es kein Morgen, was ja, wenn man den Propheten des Untergangs glaubt, durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Jeder investierte Euro in einen Panzerhersteller ist eine Stimme für die Freiheit, eine patriotische Tat. Wer sein Geld schnöde in Windräder oder soziale Projekte steckt, hat den Schuss nicht gehört. Den Einschlag der russischen Artillerie, um genau zu sein. Es werden neue Feindbilder geschaffen, alte reaktiviert. Der Russe an sich, nicht nur seine Regierung, wird zum Problem erklärt. Dostojewski? Ein verkappter Imperialist. Kandinsky? Ein Vorbote der hybriden Kriegsführung. Die russische Seele, von der man einst schwärmte, ist nun ein finsterer Abgrund, aus dem uns nur der neueste Kampfjet retten kann.
Und die Intellektuellen? Die Dichter und Denker, die einst als Gewissen der Nation galten? Sie sind gespalten. Die einen haben sich zu Warlords des Feuilletons aufgeschwungen und fordern in flammenden Appellen die sofortige Mobilmachung. Sie malen den Teufel an die Wand, und der Teufel trägt eine Uschanka. Die anderen, die zur Mäßigung mahnen, die an die Kraft des Dialogs erinnern, werden als weltfremde Träumer abgetan, als Schönwetter-Pazifisten, die nicht verstehen, dass man mit einem Bären nicht verhandeln kann. Man muss ihn erlegen. Oder zumindest so tun, als ob.
Die sozialen Medien sind ein Schlachtfeld für sich. In den Kommentarspalten tobt der virtuelle Bürgerkrieg. Wer nicht für uns ist, ist für Putin. Differenzierung ist ein Fremdwort. Jede Frage, jede kritische Anmerkung wird als feindliche Propaganda entlarvt. Trolle und Bots, so heißt es, unterwandern die Debatte. Doch oft sind es die ganz normalen Bürger, die, angestachelt von der medialen Dauerbefeuerung, zu Inquisitoren der einzig wahren Wahrheit werden. Sie jagen nach Ketzern, nach Abweichlern, nach Zweiflern. Und sie finden sie überall.
So dreht sich die Spirale aus Angst und Aufrüstung immer weiter. Ein Perpetuum mobile der Paranoia. Und am Ende, wenn die Lager voller Waffen sind und die Köpfe voller Feindbilder, dann ist die Gefahr vielleicht wirklich real. Nicht, weil Putin es so wollte, sondern weil wir ihn so lange herbeigeschrien haben, bis er gar nicht mehr anders konnte, als tatsächlich vorbeizuschauen. Um zu sehen, was denn der ganze Lärm soll. Und um zu fragen, ob er sich vielleicht doch eine Tasse Zucker leihen kann. Für den Tee. In seiner Datscha.
In diesem Klima der Hysterie gedeihen die absurdesten Blüten. Es werden Kurse für „zivilen Widerstand“ angeboten, in denen man lernt, wie man Molotow-Cocktails aus nachhaltig angebauten Glasflaschen bastelt und wie man dem Feind mit scharfzüngigen, aber politisch korrekten Beleidigungen die Moral raubt. Die Baumärkte melden einen reißenden Absatz von Spaten, nicht etwa für die Gartenarbeit, sondern für den Bau von Schützengräben im eigenen Vorgarten. Man will ja vorbereitet sein, wenn der Panzerspähwagen durch die Tulpenbeete rollt. Die Nachbarschaftswachen, die einst gegen Einbrecher patrouillierten, halten nun Ausschau nach verdächtigen Drohnen mit kyrillischen Schriftzeichen.
Selbst die Popkultur bleibt nicht verschont. Es entstehen neue Lieder, die von der Tapferkeit der Heimat und der Niedertracht des Feindes künden. Streaming-Dienste produzieren im Eilverfahren Serien über heldenhafte Widerstandskämpfer, die im Alleingang ganze russische Bataillone aufhalten. Das Merchandising boomt. T-Shirts mit der Aufschrift „Ich habe keine Angst vor dem Bären“ sind der letzte Schrei. Die Modefarbe der Saison ist „Tarnfleck Oliv“, und Gasmasken werden zum schicken Accessoire für den urbanen Hipster.
Die Ironie der Geschichte will es, dass wir in unserem Eifer, uns gegen eine vermeintliche Diktatur zu wappnen, selbst immer autoritärer werden. Die Meinungsfreiheit wird zum Sicherheitsrisiko erklärt. Wer die offizielle Erzählung in Frage stellt, spielt dem Feind in die Hände. Die Überwachung wird ausgebaut, um potenzielle Saboteure zu entlarven. Die Grenzen werden dicht gemacht, nicht nur für den Feind, sondern auch für das freie Denken. Wir bauen eine Festung, um unsere Freiheit zu schützen, und merken nicht, dass wir uns selbst einmauern.
Und so warten wir. Wir warten auf den Angriff, der uns seit Monaten versprochen wird. Wir lauschen in die Nacht, ob wir nicht doch das Dröhnen der Motoren hören. Wir starren auf unsere Bildschirme, auf die roten Pfeile, die sich unaufhaltsam auf uns zubewegen. Die Spannung ist kaum noch auszuhalten. Vielleicht ist das ja der eigentliche Krieg. Ein Krieg der Nerven. Ein Krieg, der nicht an der Front entschieden wird, sondern in unseren Wohnzimmern. Ein Krieg, in dem die Angst die mächtigste Waffe ist. Und in diesem Krieg, so scheint es, sind wir drauf und dran, zu kapitulieren.