Reaktanz in Zeiten betreuten Denkens

Man muss es einfach einmal aussprechen: Ein Hoch auf das betreute Denken! Welch ein Segen in unserer hektischen, überkomplexen Welt. Wie wunderbar einfach das Leben doch ist, wenn uns die Leitmedien des Landes morgens nicht nur den frisch gebrühten Kaffee, sondern auch gleich die passende, wohltemperierte Meinung dazu servieren. Kein mühsames Abwägen von Fakten, kein lästiges Selberdenken, keine Gefahr, im Dickicht der Ambiguität verloren zu gehen. Es ist eine intellektuelle All-inclusive-Reise, eine Dienstleistung, für die man im Grunde zutiefst dankbar sein müsste. Man lehnt sich zurück und lässt sich die Welt erklären, fertig aufbereitet, moralisch einwandfrei und garantiert frei von unerwünschten argumentativen Zusatzstoffen. Ein Service, der das eigene Gewissen beruhigt und den Geist entlastet.

Doch was ist dieses unbestimmte Gefühl des Widerwillens, dieser leise, aber hartnäckige Impuls, genau das Gegenteil von dem für wahr zu halten, was uns da so eindringlich und unisono nahegelegt wird? Dieser innere Störenfried, der sich meldet, wenn der mediale Zeigefinger allzu belehrend in die Höhe schnellt? Die Psychologie hat für diesen Quälgeist einen Namen: Reaktanz. Es ist die „unangenehme motivationale Erregung, die entsteht, wenn Menschen eine Bedrohung oder einen Verlust ihrer freien Verhaltensweisen erleben“ [1]. Der moderne Journalismus, der sich in seiner konformistischen Ausprägung so gerne als „Haltung“ oder „Verantwortung“ verklärt, provoziert paradoxerweise genau jene Trotzhaltung, die er eigentlich zu bekämpfen vorgibt. Er ist der unbewusste Züchter seiner eigenen, widerspenstigen Kritiker.

Die Theorie der psychologischen Reaktanz, 1966 von Jack W. Brehm formuliert, ist im Grunde die wissenschaftliche Gebrauchsanweisung für den inneren Querkopf. Brehm selbst fasste das Phänomen in einer Reihe einfacher Fragen zusammen: „Warum tut ein Kind manchmal das Gegenteil von dem, was ihm gesagt wird? […] Warum ist Propaganda häufig ineffektiv, um Menschen zu überzeugen?“ [1]. Die Antwort ist verblüffend simpel: Wenn uns Meinungen nicht als Angebot, sondern als alternativlose Wahrheit oder moralisches Diktat präsentiert werden, empfinden wir dies als Bedrohung unserer Freiheit, zu einem eigenen Schluss zu kommen. Der wohlmeinende Rat verwandelt sich in einen Befehl, die Information in eine Indoktrination. Und der menschliche Geist, in seinem Kern auf Autonomie ausgelegt, reagiert mit Widerstand. Der mediale Zeigefinger, der uns den „richtigen“ Weg weisen will, erzeugt so den unbändigen Wunsch, in die entgegengesetzte Richtung zu laufen, und sei es nur aus Prinzip.

Genau hier entfaltet sich die ganze Tragikomik des heutigen Mainstreamjournalismus. Angetreten, um aufzuklären und Vielfalt abzubilden, präsentiert er sich allzu oft als homogene Echokammer. Die immer gleichen Experten dozieren in den immer gleichen Talkshows, die identischen Narrative werden über die Agenturticker von Blatt zu Blatt gereicht, und die Empörungswellen rollen so synchron durch die Timelines, als hätte ein unsichtbarer Dirigent den Taktstock gehoben. Dies ist selten das Ergebnis einer finsteren Verschwörung, sondern vielmehr die Konsequenz zutiefst menschlicher Schwächen: intellektuelle Bequemlichkeit, soziale Konformität und die tief sitzende Angst, aus der warmen Herde der vermeintlich Anständigen ausgeschlossen zu werden. Man bewegt sich sicher innerhalb des sogenannten „Meinungskorridors“, jenem unsichtbaren Elektrozaun, der die journalistische Herde auf einer wohlbekannten Weide hält. Wer ihn berührt, bekommt einen schmerzhaften sozialen Stromschlag in Form von öffentlicher Ächtung.

Die schwedische Journalistin Ann-Charlotte Marteus hat diesen Zustand in einer bemerkenswerten Selbstkritik auf den Punkt gebracht. Sie entschuldigte sich dafür, am Aufbau eines solchen Korridors mitgewirkt zu haben, und bilanzierte die fatalen Folgen: „Der Preis war hoch: Selbstzensur auf breiter Front, Angst davor, die Realität vorbehaltlos zu erkunden, verringertes Vertrauen in die Macht der Argumente. Und infolgedessen eine verdummte Öffentlichkeit, moralisch böswillige Politiker und gesellschaftliche Probleme, die längst hätten bemerkt und angegangen werden müssen. Es wurde ein teurer Korridor.“ [2]

Was Marteus hier beschreibt, ist nichts anderes als Denkfaulheit, die sich als moralische Überlegenheit tarnt. Das ständige Wiederholen der als korrekt anerkannten Meinung ist keine intellektuelle Leistung, sondern ihre Verweigerung. Es ist die Kapitulation vor der Komplexität der Welt, eine intellektuelle Bankrotterklärung im Gewand der Haltung. Eine Studie des schwedischen Instituts Demoskop bestätigte 2015, dass gerade bei kontroversen Themen wie der Einwanderung eine Kluft zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung klafft und Mehrheiten Gefahr laufen, als Minderheiten dargestellt zu werden.

Doch in dieser Entwicklung liegt eine wunderbare Ironie. Der Widerstand gegen das betreute Denken ist kein destruktiver Trotz, sondern das vitale Immunsystem einer freien Gesellschaft. Die Reaktanz ist der Notruf des mündigen Bürgers, der spürt, dass ihm eine fundamentale Freiheit genommen wird: die Freiheit zur eigenen Urteilsbildung. Je lauter und uniformer der Chor der Meinungsmacher singt, desto attraktiver wird die Stille des Zweifels und der Lärm des Widerspruchs. Der Mainstreamjournalismus wird so zum unfreiwilligen Geburtshelfer alternativer Perspektiven. Die viel beklagte Existenz von „Gegenöffentlichkeiten“ ist kein Problem, sondern ein Symptom, ein Symptom für einen Journalismus, der seine Rolle als neutraler Informant gegen die des wohlmeinenden, aber letztlich bevormundenden Erziehers eingetauscht hat.

Das betreute Denken ist eine komfortable, aber zutiefst entmündigende Dienstleistung. Die Denkfaulheit des Herdenjournalismus nährt die psychologische Reaktanz und untergräbt so schleichend seine eigene Autorität. Man möchte dem Mainstream fast danken: Danke, dass ihr uns durch eure Penetranz zur Mündigkeit zwingt. Danke, dass ihr uns lehrt, wieder selbst zu denken, und sei es nur, um euch zu widersprechen. So wird der ehemals passive Konsument zum aktiven Denker, der seine Freiheit wiederentdeckt. Nicht dank, sondern trotz derer, die vorgeben, sie ihm zu erklären. Ein Hoch auf die Reaktanz, die letzte Bastion des unbetreuten Denkens.

Referenzen

[1] Steindl, C., Jonas, E., Sittenthaler, S., Traut-Mattausch, E., & Greenberg, J. (2015). Understanding Psychological Reactance: New Developments and Findings. *Zeitschrift für Psychologie, 223*(4), 205–214. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4675534/

[2] Wikipedia-Autoren. (2023). *Meinungskorridor*. Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Abgerufen am 26. September 2025, von https://de.wikipedia.org/wiki/Meinungskorridor

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