In einer Zeit, da die Ideenknappheit in der Politik nur noch von der Fantasielosigkeit der Denkfabriken übertroffen wird, erhebt ein Mann seine Stimme, dessen Geburtsjahr mit dem letzten ordentlichen Dreiklang aus Kohleofen, Trümmerfrau und Rübensirup zusammenfällt. Klaus Hurrelmann, Soziologe im Status „daueraktiviert“, beweist eindrucksvoll: Wer mit 81 Jahren noch Interviews gibt, braucht keinen sozialen Pflichtdienst, er lebt ihn bereits.
Hurrelmann, von Beruf früher einmal Jugendforscher, heute offenbar hauptberuflich Zeitgeistveredler mit biedermeierlicher Stilnote, hat eine bahnbrechende Idee in die Debatte geworfen: Nicht nur die Jugend, auch die Alten sollen Dienst leisten. Sozial. Verbindlich. Pflichtbewusst. Oder wie es in seiner Generation heißt: „Weil’s sich gehört.“ Die Jungen sollen die Heimat verteidigen, die Alten die Heimat pflegen, offenbar in doppeltem Wortsinn.
Was sich zunächst liest wie eine Realsatire aus dem Amtsblatt der „Bundesarbeitsgemeinschaft Pflicht und Anstand“, ist in Wahrheit der Versuch, eine Gesellschaft zu zementieren, in der niemand mehr entkommt. „Alle Generationen sollen Verantwortung tragen“, sagt der Alt-Soziologe. Und meint damit: Alle sollen schuften. Weil das Leben kein Ponyhof ist. Und weil man im Krieg auch nicht gefragt wurde, ob man lieber nicht möchte.
Silberrücken in Warnwesten
Dass es sich bei Hurrelmanns Vorschlag nicht um eine sanfte Anregung, sondern um ein Zwangskonzept mit Sonntagsgesicht handelt, wird schnell klar. Nicht „dürfen“, sondern „sollen“, nicht „helfen“, sondern „anpacken“. Man möchte sich den Probanden seiner Utopie vorstellen: ein 74-jähriger Ex-Pharma-Manager mit leichtem Bluthochdruck, der gegen seinen Willen in einer Kita antritt, um dort „soziale Verantwortung“ zu lernen. Von Kindern, die ihn mit „Opa mit dem Apfelmus-Atem“ verspotten. Oder, noch besser, ein greiser Senior als Waffenkontrolleur an Brennpunktschulen. Was werden die wohl lachen? Also nicht die Senioren.
Fit soll man sein, das ist die Bedingung. Und wer entscheidet das? Der Hurrelmann’sche Sozial-TÜV? Die Bundesanstalt für Altersaktivierung? Wird es künftig Pflichtuntersuchungen geben, bei denen man ab 67 regelmäßig auf Diensttauglichkeit geprüft wird? Kniebeugen, Lächeln, Pflegekraft imitieren? Wer durchfällt, darf sich weiterverbrauchen lassen, als Demenzstatist im kommunalen Theaterprojekt „Pflege, ein letzter Akt“?
„Ich packe mit an, für Deutschland“
Der Gedanke, dass ausgerechnet die Generation, die schon alles mitgemacht hat, von Kaltem Krieg über Kohl bis Klimakollaps, nun auch noch die sozialen Reste des Gemeinwesens aufwischen soll, entbehrt nicht einer gewissen unfreiwilligen Komik. Man fragt sich, ob Hurrelmann die Senioren meint, die seit Jahren systematisch auf „aktiv und gesund“ getrimmt wurden wie ein älterer Golden Retriever, der mit dem Ball spielt, um zu gefallen.
Die neue Vorstellung vom Alter ist: Wer mit 80 nicht mindestens einmal pro Woche Spenden sortiert, Sterbebegleitung leistet oder als Quartiersmanager sein Viertel von Drogenszenen säubert, ist offenbar ein asozialer Nichtsnutz. Oder, wie es bald heißen könnte: ein „Nicht-Pflichter“.
Hurrelmann Reloaded: Die graue Armee marschiert
Doch was wäre eine Pflicht ohne Uniform? Eine Idee ohne Vision? Hurrelmann dachte weiter, konsequent, wie man das von jemandem erwartet, der nie aufgehört hat zu erziehen. Nach dem sozialen Pflichtdienst nun also: der Wehrdienst für Senioren. Ein Schritt, der so kühn ist, dass er beinahe wieder deutsche Geschichte wäre.
Die Bundeswehr braucht Personal. Junge Leute wollen nicht mehr, da dachte sich der Altmeister der Strukturpädagogik: Warum nicht die Alten? Statt Rollatoren, Rücksäcke. Statt Nordic Walking, Nachtpatrouille. Schließlich kennen sie sich aus mit Disziplin, marschierten schon durch die ideologischen Felder von 1968, 1980 und 1990. Und das alles ohne Triggerwarnung.
Der „Seniorenwehrdienst“ wäre kein Witz, sondern ein Innovationsprojekt. Erste Pläne des Verteidigungsministeriums liegen bereits vor: Die neue Truppe firmiert unter dem Arbeitstitel „Graue Division“. Die Uniformen sind druckknopfkompatibel. Statt Sturmgewehr gibt’s Elektroschocker mit Venenfindungstechnologie. Und natürlich ein neues Kampfmotto: „Im Sitzen stark, im Liegen unbesiegbar.“
Die Ausbildung
Die Grundausbildung findet in Kurkliniken an der Ostsee statt. Marschieren wird durch Wassergymnastik ersetzt, das Schießen durch Zielwerfen mit Kirschkernkissen. In den ersten Wochen lernen die Rekruten nicht nur Taktiken zur Abwehr russischer Hacker, sondern auch, wie man eine Gastherme aus dem Zweiten Weltkrieg im feindlichen Gebiet entlüftet, intergenerationale Synergieeffekte!
Jeden Morgen ertönt der Weckruf: „Aufstehen! Deutschland braucht euch nochmal!“ Danach: Blutdruckmessen im Gleichschritt. Die Feldrationen bestehen aus Haferschleim, der sich unter Beschuss nicht verflüssigt.
Krieg, aber mit Wärmflasche
Doch der Senioren-Wehrdienst ist nicht nur Verteidigung nach außen, sondern vor allem ein Schutzwall gegen das drohende Gefühl: unnütz zu sein. Denn was ist würdiger, als im Alter noch einmal für sein Land zu frieren, diesmal freiwillig, also pflichtgemäß? Der Einsatzort könnte, je nach Vitalitätsgrad, variieren: von der ukrainischen Grenze bis zum Parkverbot in Bad Homburg.
Als Spezialkräfte gelten Senioren mit Bastelerfahrung und Kriegsdienstverweigerer mit Yoga-Zertifikat. Besonders gefragt: Frauen mit früherem Engagement in Elternbeiräten, laut Bundeswehr „eine bisher unterschätzte Eliteeinheit mit hoher Leidensfähigkeit“.
Bürgerpflicht als Endstation
Die eigentliche Tragik hinter Hurrelmanns Vorschlägen ist weniger das Groteske, sondern das Gewöhnliche daran. Die Idee, dass niemand einfach so sein darf, dass jeder eine Schuld hat, nicht juristisch, sondern existenziell. Du atmest? Dann gib was zurück. Du lebst noch? Dann sei nützlich. Du hast Rücken? Dann eben im Sitzen.
Der Sozialstaat, der einst für Sicherheit stand, wird zur Dauerforderungsgesellschaft. Und so wird das Alter, jene einst sakrosankte Lebensphase der Würde, Langsamkeit und des selbstbestimmten Verfalls, zur letzten Frontlinie gegen die Angst, nicht mehr gebraucht zu werden. Nicht der Tod ist hier der Feind, sondern die Nutzlosigkeit.
Ein Vorschlag zur Güte
Wenn man Herrn Hurrelmanns Idee etwas Gutes abgewinnen will, und Satire ist zu höflich, um dies nicht zu versuchen,, dann vielleicht dies: Sie offenbart ein tiefes Unbehagen an einer Gesellschaft, die das Alter verwaltet, statt es einzubinden. Doch statt aus dieser Erkenntnis eine empathische Politik des Ermöglichens zu machen, greift Hurrelmann zum deutschen Lieblingswerkzeug: der Pflicht.
Es ist der Reflex eines Landes, das seiner Bevölkerung nicht vertraut, sondern sie ständig pädagogisch betreuen will, von der Krippe bis zur Urne. Und so wird aus einer womöglich gut gemeinten Idee eine weitere Windung im gordischen Knoten aus Kontrolle, Misstrauen und bürgerlicher Selbstüberforderung.
Epilog: Hurrelmann, der Letzte
Klaus Hurrelmann, der mit über achtzig Jahren noch immer das Mikrofon nicht loslässt, ist vielleicht gar nicht das Problem, sondern nur ein Symptom. Ein Prophet jener Pädagogokratie, die längst alle Lebensbereiche durchdrungen hat. Vielleicht sollten wir ihm einfach danken. Nicht mit einem sozialen Pflichtdienst, sondern mit einer ehrlichen Ruhestandsurkunde.
Darauf stünde:
„Sie haben genug erklärt. Lassen Sie jetzt los. Die Gesellschaft kommt auch mal ohne Zwang zurecht.“
Und falls sie das nicht tut, dann ist es eben wie immer: Dann hilft auch kein Dienst mehr, nur noch Ironie.
Fazit. Hurrelmann, geh du voran, sofort in die (Waffen) Produktion!