Die Hauptstadt des angewandten Irrsinns und ihr Aufforstungsplan
Man muss Berlin lassen: Es hat Stil. Niemand kann so ausdauernd, so majestätisch scheitern wie diese Stadt. Und dabei noch so überzeugt sein, gerade Großes zu leisten. Jetzt also: eine Million Bäume bis 2040 – und vorher auch noch ordentlich Knete für Bürgerräte. Der Berliner Senat hat das „Eine-Million-Prinzip“ erfunden, jene magische Zahl, die groß genug klingt, um Tatkraft zu suggerieren, und klein genug ist, um garantiert nichts zu verändern. Eine Million, das ist der neue Berliner Goldstandard für symbolisches Regieren.
Die Hauptstadt ist, wie man weiß, finanziell solide – zumindest nach eigener Lesart. Berlin ist solvent, in jenem metaphysischen Sinn, in dem ein notorischer Schuldner solvent ist, solange er an die nächste Überweisung glaubt. Es gibt hier Geld in jeder Farbe: Bundesmittel, Landesmittel, Sondermittel, Zweckmittel, unzweckmäßige Mittel. Nur am Ende, wenn’s ans Handeln geht, bleibt eine Million übrig. Denn eine Million ist nicht viel, aber immerhin: rund, medientauglich und bequem zu verhandeln.
Der Millionismus als Regierungsform
Berlin ist die Hauptstadt des Maßvollen. Sie will nicht mehr die Mauerstadt sein, nicht mehr die Arm-aber-Sexy-Ruine, sondern die Welthauptstadt des administrierten Fortschritts. Und wie drückt man administrative Leidenschaft besser aus als in exakt kalkulierten Millionen? Eine Million Bäume, eine Million Euro, eine Million Gründe, warum alles länger dauert.
Es ist ein System: Symbolik als Substitution. Wer kein Ergebnis hat, braucht wenigstens eine Summe. Und Berlin ist großzügig: Es teilt seine Millionen aus wie Almosen im Kostüm moralischer Größe.
Da sitzt dann also der Senat, zählt sein Geld, schaut in die Kameras und verkündet feierlich: „Wir pflanzen eine Million Bäume!“ Das Publikum klatscht, die Opposition runzelt die Stirn, und alle sind zufrieden. Denn keiner fragt: Warum nicht zwei Millionen? Oder fünf? Warum nicht zehn? Eine Million klingt schließlich exakt so, wie Berlin sich selbst sieht: ambitioniert, aber erschöpft.
Die große Rechenkunst
Eine Million Bäume bis 2040, das klingt zunächst nach biblischer Aufforstung. Doch teilt man das durch die Jahre, bleibt ein zärtliches Rascheln von rund 55 000 Bäumen pro Jahr. Das sind etwa 150 pro Tag. Und das wiederum ist weniger als die Zahl der Beschlüsse, die täglich im Verwaltungsdschungel verdorren.
Berlin ist eben keine Stadt der Wälder, sondern der Formulare. Hier pflanzt man keine Bäume, sondern Projekte. Jeder Setzling braucht zunächst eine Ausschreibung, eine Machbarkeitsstudie, ein Gutachten zur Schattenwurfauswirkung und natürlich eine Bürgerbeteiligung, finanziert aus jenem legendären Millionenfonds für Bürgerräte. Der Kreis schließt sich.
Ein Berliner Beamter erklärte unlängst in vertraulicher Runde: „Wenn wir jeden Antrag auf Baumpflanzung so gründlich prüfen, wie es das Gesetz verlangt, dann haben wir 2040 zwar keine Bäume, aber sehr stabile Papierstapel.“ Was lernt der aufmerksame Beobachter des politischen Zeitgeists daraus? Nachhaltigkeit hat eben viele Formen!
Der Bürgerrat als Feigenblatt
Bevor also das erste Blatt wächst, wächst zunächst das Verfahren. Dafür gibt es den Klimabürgerrat, jenes demokratische Gremium, das per Losverfahren zufällig ausgewählte Bürger dazu bestimmt, unter professioneller Moderation jene Meinungen zu formulieren, die der Senat ohnehin schon hat. Das Ganze kostet…so genau weiß das niemand in Berlin, das jedoch mit Sicherheit.
Man könnte sagen: Für das Geld hätte man ein paar hundert Bäume pflanzen können. Aber was ist ein Baum gegen das erhebende Gefühl, beteiligt zu sein? In Berlin versteht man Demokratie nicht als Macht des Volkes, sondern als Pflichtgefühl, im Kreis zu diskutieren. Das eigentliche Ziel solcher Räte ist nicht Erkenntnis, sondern Konsenssimulation.
Und so entsteht die Berliner Symbiose: eine Million Euro für das Reden über Klimaschutz und eine Million Bäume für das Reden über das Reden. Die Stadt lebt von der Dialektik zwischen Symbol und Selbstgespräch. Das nennt man Hauptstadt.
Die Baumrechnung
3,2 Milliarden Euro sollen die grünen Hoffnungsträger kosten. Das ergibt rund 3 200 Euro pro Baum, ein stolzer Preis. Doch der Berliner Baum ist kein gewöhnlicher Baum. Er ist ein sozialökologisches Gesamtkunstwerk, ein Pädagogikprojekt mit Wurzelzertifikat.
Er wächst nicht einfach, er wird betreut. Er hat eine Patenschaft, ein Genderkonzept, ein Partizipationsforum und eine begleitende Evaluation. Er soll nicht nur Schatten spenden, sondern auch Haltung zeigen. Und wenn er eingeht, dann nur aus Solidarität mit der Verwaltung.
Man darf sich das ruhig vorstellen: 2040 steht Berlin voller halber Bäume, alle perfekt dokumentiert, jeder mit zertifiziertem Stammbaum. Die Stadt ist grün auf dem Papier, digital durchforstet, analog vertrocknet. Aber sie hat ihr Ziel erreicht: Die Million wurde voll, in der Statistik.
Die Moral der Maßlosigkeit
Natürlich könnte Berlin mehr tun. Aber warum sollte es? Eine Million genügt. Für alles.
Für das Klima, für die Demokratie, für das Selbstbild. Man kann sich sogar vorstellen, dass bald weitere „Eine-Million“-Initiativen folgen:
Eine Million Sitzungen zur Verwaltungsreform.
Eine Million Stunden Wartezeit bei Bürgerämtern.
Eine Million E-Mails zur Terminvereinbarung.
Das passt. Berlin bleibt sich treu, es tut viel, indem es wenig tut, aber das mit großem Nachdruck.
Die Hauptstadt will retten, ohne zu verändern. Sie möchte modern sein, aber nicht pünktlich. Ambitioniert, aber risikofrei. Es ist der Fetisch der Absicht: Lieber ein Projekt haben, als ein Ergebnis. Lieber eine Million Pflanzpläne, als ein echter Wald.
Die ironische Prognose
Im Jahr 2040 wird die Hauptstadt stolz verkünden, sie habe eine Million Bäume gepflanzt. Davon werden
250 000 tatsächlich stehen,
200 000 in Pflegeheimen für versiegelte Wurzeln vegetieren,
150 000 als „Planungsleichen“ in Datenbanken weiterleben,
300 000 in Gremienbeschlüssen spurlos verrottet sein,
und der Rest wird als „fortlaufende Maßnahme“ ins nächste Jahrzehnt verschoben.
Die Bürgerräte werden in der Zwischenzeit eine Million Vorschläge erarbeitet haben, wie man künftig effizienter über das Scheitern diskutieren könnte. Der Senat wird sich selbst gratulieren, für die transparente Kommunikation der Verzögerung. Und Berlin wird sich im Schatten seiner fehlenden Bäume ausruhen: solvent, klimabewusst und wunderbar beschäftigt.
Nachhall: Die Kunst der symbolischen Vegetation
Berlin ist kein Ort der Umsetzung, sondern der Übung. Hier wird Zukunft nicht gebaut, sondern geprobt. Jeder Schritt vorwärts braucht ein Gutachten, jede Entscheidung einen Arbeitskreis. Und jedes Problem wird mit einem runden Betrag in Millionenhöhe zugepflastert.
So wird das Klima gerettet, nicht durch Wald, sondern durch Willensbekundung. Die Berliner Luft bleibt, was sie ist: ein Gemisch aus Abgas, Hoffnung und Rhetorik. Und wer weiß, vielleicht steht eines Tages wirklich ein Baum an jeder Ecke. Nicht, weil er gepflanzt wurde, sondern weil jemand vergessen hat, ihn zu beantragen.
Bis dahin bleibt Berlin solvent. Im Herzen, im Haushalt, im Selbstlob. Eine Stadt, die sich leisten kann, alles zu meinen, und nichts zu tun.
Eine Million hier, eine Million da, und fertig ist die Klimawende.