Der Dunning-Kruger-Effekt in Politik und Medien, oder „Ich habe keine Ahnung, davon aber reichlich‟
Die Politik
Die Selbstüberhöhung der Ahnungslosen: Dunning-Kruger als Regierungsprogramm
Es gibt psychologische Theorien, die erklären die Welt. Und es gibt solche, die entschuldigen sie. Der Dunning-Kruger-Effekt gehört zweifellos zur ersten Sorte, er leuchtet wie ein grelles Flutlicht in den Saal unserer politischen Gegenwart und zeigt: Die größten Klatscher sitzen nicht nur im Publikum, sie haben inzwischen das Mikrofon.
Ursprünglich als empirische Beobachtung zweier Psychologen gedacht, Menschen mit geringer Kompetenz neigen dazu, ihre Fähigkeiten grotesk zu überschätzen,, hat sich der Dunning-Kruger-Effekt in den letzten Jahren zu einer Art Regierungsform ausgewachsen. Er ist zur politischen Lebenslüge des 21. Jahrhunderts geworden: „Ich weiß es nicht, aber ich weiß es besser.“
Früher wurden Personen mit Ahnung in Führungspositionen berufen. Heute reicht es, nicht zu wissen, wie wenig man weiß, und das mit strahlender Selbstgewissheit zu verkaufen. Denn der moderne Politiker muss nicht mehr gestalten, sondern gefallen. Und gefallen tut, wer in einfachen Sätzen spricht, mit einem Lächeln nickt und auf Nachfrage sagt: „Da muss man jetzt auch mal differenzieren“, um dann nicht zu differenzieren.
Ein Blick in das politische Personal genügt. Die Ministerien gleichen zunehmend Kabinetten der Selbstüberschätzung. Wer nicht durch Expertise auffällt, fällt durch Haltung auf. Und Haltung heißt: Standfestigkeit in der Ahnungslosigkeit. Da sitzt dann jemand im Wirtschaftsausschuss, der von Bilanzen nur weiß, dass sie unangenehm klingen. Oder in einem Digitalministerium, das Breitband mit Frühstücksflocken verwechselt. Hauptsache: authentisch.
Die Personalpolitik folgt einem algorithmischen Prinzip: Wen interessiert Fachwissen, wenn die Person auf TikTok tanzt? Politik wird performativ, nicht deliberativ. Es zählt nicht mehr, was man weiß, sondern wie man wirkt. Die Bühne gehört denen, die sich selbst genug sind. Und Selbstüberschätzung ist zur Kernkompetenz erklärt worden.
Natürlich ist das kein Zufall. Es ist systemisch. Wer sich seiner Grenzen bewusst ist, zögert. Wer zögert, wirkt schwach. Wer schwach wirkt, verliert. Also gewinnt, wer keine Grenzen kennt, oder sie verleugnet. So wird aus dem Dunning-Kruger-Effekt ein Selektionsprinzip: Nur wer genug Selbstverblendung mitbringt, übersteht den Aufmerksamkeitszirkus.
Die Folgen sind evident, und fatal. Debatten werden zu Theaterstücken, in denen niemand mehr fragt: „Ist das richtig?“, sondern nur noch: „Kommt das gut an?“ Sachverstand wird zur Fußnote, Fachkenntnisse zur Provokation. Wer noch differenziert denkt, gilt als elitär, wer komplexe Zusammenhänge benennt, als abgehoben. Der Populismus liebt es simpel, und der Dunning-Kruger-Effekt liefert: einfach, laut, falsch, aber überzeugend.
Das Gefährlichste daran ist nicht die Inkompetenz an sich, sondern ihr Schutzschild: die moralische Immunisierung. Denn wer kritisiert, wird nicht ernst genommen, sondern verdächtigt, „undemokratisch“ zu sein. Der neue Autoritarismus kommt nicht im Stiefeltritt, sondern im Hoodie. Und er sagt: „Lass mich in Ruhe mit deinem Wissen, ich hab Gefühle!“
So wird der Dunning-Kruger-Effekt zum Rückgrat einer neuen politischen Kultur: gefühlig, selbstgerecht, faktenresistent. Und weil die Ahnungslosen ihre Inkompetenz nicht erkennen, halten sie ihre Irrtümer für Einsichten, und jede Kritik daran für Majestätsbeleidigung.
Ein funktionierender Staat aber lebt vom genauen Gegenteil: von der Bereitschaft, sich selbst zu hinterfragen. Von Institutionen, die mehr wissen als twittern. Von Entscheidungsträgern, die wissen, dass sie nicht alles wissen. Doch diese Haltung gilt heute als Schwäche.
So wächst ein politisches Klima, in dem Kompetenz zur Ausnahme wird. Die Regel ist das Mittelmaß mit Mikrofon. Und wer es wagt, darauf hinzuweisen, bekommt den Tadel: zu negativ, zu elitär, zu „abgehoben“. Doch vielleicht ist das die eigentliche Tragik: Dass man in Zeiten des Dunning-Kruger-Effekts nicht nur klüger sein muss, sondern auch leiser, höflicher, harmloser.
Denn die Ahnungslosen haben nicht nur das Wort, sie haben auch die Nerven. Und das ist vielleicht die größte Ironie: Dass wir den Dunning-Kruger-Effekt erkennen, und dennoch in seiner Logik leben müssen.
Die Medien
Die Ahnungslosen und ihre Verstärker: Medien im Dunning-Kruger-Zeitalter
Ein Paradoxon unserer Zeit lautet: Je leerer das Statement, desto lauter das Echo. Das ist kein Zufall, sondern ein System, genährt, gefüttert und inszeniert von einer Medienlandschaft, die längst aufgehört hat, sich dem Erkenntnisgewinn verpflichtet zu fühlen. Sie ist zur Resonanztrommel des Dunning-Kruger-Effekts geworden: ein Echo-Raum, in dem die Ahnungslosen nicht nur sichtbar, sondern spektakulär berühmt werden.
Dabei war Journalismus einmal ein Ort der Einordnung, nicht der Eskalation. Man erklärte Zusammenhänge, statt Tweets vorzulesen. Heute aber regiert das Schlagzeilenwesen. Wer Differenziertes sagt, darf in der dritten Reihe sitzen. Wer brüllt, kommt in die Primetime. Die Talkshows, diese einstigen Arenen der intellektuellen Auseinandersetzung, sind verkommen zu einem Karneval des Halbwissens, moderiert von Leuten, die sich zwischen der Rolle als Gastgeber und Erregungsmanager nicht entscheiden können.
„Herr X, Sie behaupten also, die Erde ist flach. Warum glauben Sie das?“, so beginnt kein Witz, sondern das dramaturgische Grundkonzept einer öffentlich-rechtlichen Debatte. Die Idee: Jede Meinung verdient Gehör. Die Realität: Jeder Unsinn wird veredelt, solange er Quote bringt. Es zählt nicht, was stimmt, sondern was knallt. Je irrationaler das Argument, desto größer die Erregung, desto höher die Einschaltzahlen. So wird der Dunning-Kruger-Effekt nicht nur hingenommen, sondern massenmedial belohnt.
Das mediale Betriebssystem läuft nach einem simplen Algorithmus: Aufregung ist Wahrheit. Wer den größten Unsinn am überzeugendsten vorträgt, bekommt nicht etwa einen Faktencheck, sondern eine Einladung zur nächsten Diskussionsrunde. So mutieren fragwürdige Existenzen zu Talkshow-Stammgästen. Man kennt sie nicht, man braucht sie aber, für die Quote.
Besonders grotesk wird es, wenn „Beide Seiten hören“ zur Maxime erklärt wird. Als wäre Klimawissenschaft eine Glaubensfrage. Oder die Existenz von Viren eine These. Man lädt den Virologen, und daneben den Yogainfluencer mit Telegram-Kanal. „Balance“ nennt man das. Im Grunde ist es die journalistische Form des Stockholm-Syndroms: Man lässt sich von den Dummen in Geiselhaft nehmen und bedankt sich anschließend artig für die Einschaltquote.
Auch die sozialen Medien tun ihr Übriges. Was dort als Diskurs gilt, ist oft ein Dialog zwischen zwei Ego-Projektilen. Die Mechanik ist klar: Wer überzeugt ist, aber keine Ahnung hat, spricht einfacher, klarer, populistischer. Wer sich auskennt, spricht differenzierter, und verliert. Denn Algorithmen lieben Eindeutigkeit, nicht Ambivalenz. Die Plattformen sind keine Orte der Aufklärung, sondern des Furors. Und die Stars dieser Furienwelt? Politiker, die den Dunning-Kruger-Effekt nicht nur leben, sondern zelebrieren.
So entstehen bizarre Szenen: Eine medienaffine Bundestagsabgeordnete, die am Vortag noch Desinformation über Impfstoffe verbreitet hat, sitzt heute bei Anne Will und redet über „verfassungsfeindliche Narrative“, die sie selbst befeuert. Ihre Kompetenz: Sie hat viele Follower. Ihr Wissen: irrelevante Fußnote. Ihr Auftritt: blendend. Und das reicht. Denn die Kamera hat keinen Wahrheitsfilter, nur eine Zoom-Funktion.
Der Dunning-Kruger-Effekt ist in den Medien längst kein Phänomen mehr, das von außen beobachtet wird. Er ist integraler Bestandteil redaktioneller Entscheidungen. Redaktionen, einst Bollwerke gegen den Schwachsinn, verhalten sich inzwischen wie Marktanalysten mit Reizdarmsyndrom: hektisch, ängstlich, reaktiv. Man produziert Inhalte für Zielgruppen, die möglichst wenig verlangen: kein Hintergrund, keine Kontextualisierung, nur Meinung in drei Sätzen, bitte mit Gesichtsausdruck.
Besonders drastisch zeigt sich das im Umgang mit sogenannten Experten. Wo früher ein Professor auftrat, kommt heute ein „politischer Berater“, ein Euphemismus für Menschen mit einem LinkedIn-Profil und aggressiver Selbstvermarktung. Ihre Expertise basiert nicht auf Wissen, sondern auf Sichtbarkeit. Sie erklären die Welt in 90 Sekunden und grinsen dabei, als hätten sie gerade einen besonders cleveren Steuertrick entdeckt.
Das größte Problem: Das Publikum beginnt zu glauben, dass das alles normal ist. Dass Politik aus Halbwissen bestehen muss, dass Journalismus aus Klickzahlen besteht, dass Debatten keine Suche nach Wahrheit, sondern nach Aufmerksamkeit sind. Und so verankert sich der Dunning-Kruger-Effekt nicht nur in Köpfen, sondern in Kultur.
Dabei wäre es nicht schwer, gegenzusteuern. Man müsste nur aufhören, jede Meinung mit Sendezeit zu adeln. Man müsste wieder unterscheiden lernen zwischen Relevanz und Lautstärke. Man müsste aufhören, Unwissen als mutige Position zu feiern. Doch dafür bräuchte es: Haltung. Mut. Und, ja, Kompetenz.
Aber solange das Grundgefühl im Newsroom lautet: „Ich hab zwar keine Ahnung, aber das wird schon gut laufen“, bleibt alles beim Alten.
Und so stehen wir da, umgeben von wortgewaltigen Ahnungslosen und ihren medialen Verstärkern. Es ist ein Echo, das klingt wie Fortschritt, aber in Wahrheit nur Rückschritt ist, mit professioneller Ausleuchtung und Einspielfilm.