Die Anmaßung der Mittelmäßigkeit

Eine Hommage an das deutsche Mittelmaß im Reich der Repräsentanten

Es war einmal ein Land, das sich selbst gerne als Bildungsrepublik bezeichnete, ein Begriff so erhaben wie eine Einkaufstüte mit der Aufschrift „Delikatessen‟, in der sich Brot von vorgestern befindet. Dort, wo Dichter einst Kronen trugen und Denker auf Postkarten gedruckt wurden, tummeln sich heute Stimmenfänger in Talkshows, deren intellektuelles Gebäck kaum über die Konsistenz eines schaumigen Windbeutels hinausreicht.

Die politische Bühne Deutschlands, einst ein Ort für Visionäre, für grundsatzstarke Parlamentarier mit bibliothekarischem Atem und staatsmännischer Gravitas, ist heute mehrheitlich von Persönlichkeiten besiedelt, die das Mittelmaß nicht nur ertragen, sondern es regelrecht zum Ideal erheben. Und so fühlt sich Johannes Gross’ Aphorismus „Deutschland ist das Land, wo die Ungebildeten anmaßend sein dürfen‟ wie das dezente Klingeln eines Weckers an, den man morgens nicht hören möchte, weil er so unerhört recht hat.

Das demokratische Aufstiegswunder des Durchschnitts

Zunächst sei betont: Das Grundgesetz kennt keine Bildungsvoraussetzung für die Ausübung politischer Ämter. Und das ist gut so. Wer wollte schon eine Technokratie, dominiert von brillanten, aber demokratiescheuen Genies mit Hang zur Diät der Menschenwürde?

Doch wenn das Fehlen akademischer Meriten zur Eintrittskarte für mediale Allgegenwart wird und die rhetorische Selbstverliebtheit den Sachverstand ersetzt, dann lohnt ein prüfender Blick in den Maschinenraum der deutschen Volksvertretung. Dort kurbeln sie emsig: fachpolitische Autodidakten, Lebenslaufverschönerer, Menschen mit erstaunlicher Expertise im Wechseln von Parteiflaggen. Sie sitzen in Ausschüssen, deren Namen sie korrekt buchstabieren können, meistens.

Der Bildungsstand ist nicht das Problem. Das Problem ist die Pose, das Beharren auf Meinung ohne Einsicht, das Zurückweisen von Expertise als elitäres Gebaren und das kultivierte Misstrauen gegenüber dem Denken selbst.

Überzeugung ohne Überzeugungskraft

Möge man sich doch an einem regnerischen Sonntag dem Freizeitvergnügen hingeben, Bundestagsdebatten zu schauen. Da erlebt man Redebeiträge, deren inhaltliche Tiefe mit einem Pfützentest zu erfassen wäre. Man hört Sätze, die mit großem Pathos daherkommen, doch beim genaueren Hinhören in sich zusammenfallen wie eine Theaterkulisse aus Pappmaché.

Da werden internationale Zusammenhänge mit der analytischen Präzision eines Stammtischmonologs seziert, Komplexitäten mit der Machete des Bauchgefühls gekappt und Gesetzesvorschläge mit dem Charme von Schüleraufsätzen verteidigt. Der Dunning-Kruger-Effekt feiert fröhliche Urstände, denn die lautesten Stimmen gehören oft denen, die am wenigsten Zweifel kennen, ein sicheres Zeichen für die Abwesenheit von Erkenntnis.

Man denke an die energiepolitische Debatte über das Heizungsgesetz: Da echauffierte sich ein Landespolitiker über „Technokraten in Berlin‟, die „mit Wärmepumpen unsere Wohnzimmer sprengen wollen‟. Die physikalische Realität blieb dabei, wie so oft, unbehelligt.

Von der Volksnähe zur Volkstümlichkeit

Einst bedeutete Volksnähe das ernsthafte Bemühen, das Leben der Menschen zu verstehen und zu verbessern. Heute bedeutet sie häufig: Dialektsprechende Tweet-Poesie, Selfies auf Marktplätzen und ein beleidigtes Grinsen, wenn Journalisten es wagen, die Tiefe eines Gedankens zu ergründen.

Der Volksvertreter neuer Prägung trägt Turnschuhe zum Anzug, verwechselt Vertraulichkeit mit Kompetenz und sieht im Talkshowsofa die moderne Kanzel der Meinungsverkündigung. Seine größte Sorge: die nächste Schlagzeile, nicht der nächste Generationenvertrag.

Und so twittern Bundestagsabgeordnete in Versalien über vermeintliche Skandale, zitieren Studien, die nie existierten, und berufen sich auf „die Leute da draußen‟, ohne je eine empirische Begegnung mit deren Lebensrealität gehabt zu haben.

Die Verwechselbarkeit als Tugend

Die politische Mitte ist ein hohes Gut. Doch das Mittelmaß, die untere Schwelle der Ambition, ist ein Missverständnis dieser Tugend. In Deutschland jedoch wird es zur strategischen Ressource. Wer zu viel weiß, gilt schnell als arrogant, wer zu wenig, als authentisch. So gewinnt jene merkwürdige Mischung aus halbem Wissen und vollem Selbstbewusstsein Oberhand.

Parteiprogramme lesen? Eine Zumutung. Die EU verstehen? Bürokratendeutsch. Stattdessen brilliert man mit Schlagworten: „sozial gerecht‟, „digital zukunftsfähig‟, „klimaneutral bis irgendwann‟. Diese Vokabeln sind wie Instantkaffee: schnell angerührt, heiß serviert, aber kaum nahrhaft.

Man erinnere sich an den fulminanten Auftritt eines Landesministers in einer Fernsehsendung, der auf die Frage nach der Funktion von „Blockchain-Technologie‟ antwortete: „Das ist doch dieses Internet-Geld aus dem Computer!‟, und damit seinen Platz im politischen Panoptikum der digitalen Moderne sicherte.

Die Talkshow als Hochamt der Halbbildung

Ein besonderer Tempel der neuen politischen Klasse ist die Talkshow. Hier wird Meinung performt, nicht geformt. Fakten sind Requisiten, Argumente Accessoires. Man simuliert Debatte, doch im Grunde werden nur die immer gleichen Phrasen variiert: Empörung, Betroffenheit, unerschütterliches Recht-haben.

Die Einladungen erfolgen nicht nach Sachkunde, sondern nach Bekanntheitsgrad. Wer sich medial gut empört, darf wiederkommen. Wer differenziert, riskiert das Aus. Und so entstehen politische Karrieren, gegründet auf der Fähigkeit, zur richtigen Zeit den falschen Satz mit unerschütterlicher Miene zu sprechen.

Ein besonders wirksames Beispiel war die Debatte um das Bürgergeld. Anstatt komplexe ökonomische Zusammenhänge zu beleuchten, flogen Slogans wie „Leistung muss sich wieder lohnen!‟ durch die Studios, als wäre Ökonomie eine Schulhofdisziplin.

Bildung als Verdacht

In einem Land, das seine Minister im, zugespitzt formuliert, Jahresrhythmus wechselt, wird Bildung zunehmend zur diffusen Idee. Der Politiker, der lesen kann, was er unterschreibt, ist die Ausnahme. Derjenige, der den Inhalt versteht, ist eine Kuriosität. Und der, der ihn hinterfragt, eine Gefahr.

Intellektuelle Diskurse gelten schnell als abgehoben. Der akademische Habitus wird misstrauisch beäugt, als hätte sich dort eine Parallelgesellschaft etabliert, die mit dem „wirklichen Leben‟ nichts mehr zu tun hat. Dass der „Bildungselite‟ gerne vorgeworfen wird, sie verstünde das Volk nicht, ist die rhetorische Umkehrung eines Problems, das umgekehrt genauso tragisch ist: dass große Teile der Volksvertretung Bildung nicht als Orientierung, sondern als Zumutung empfinden.

Man erinnere sich an eine Bundestagsdebatte, in der ein Abgeordneter die Frage stellte, ob „Klimawandel‟ nicht auch „einfach mal wieder vorbei sein könnte‟. Der Gedanke, dass Naturgesetze nicht an Wahlperioden gebunden sind, schien ihm nicht plausibel.

Der Preis der Anmaßung

Und so erleben wir eine Erosion des politischen Ernstes. Eine Verflachung der Argumente, eine Infantilisierung der politischen Kommunikation. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion, zum Eingeständnis der eigenen Grenzen, einst Merkmal kluger Staatskunst, wird ersetzt durch das permanente Aussenden unerschütterlicher Gewissheiten.

Der deutsche Parlamentarismus ist nicht verloren. Er ist nur gut getarnt. Er versteckt sich hinter Sprachregelungen, Konsensblasen und dem allgemeinen Wunsch, nicht aufzufallen. Der Preis dieser Entwicklung ist nicht nur schlechte Politik. Es ist das langsame Verdorren jenes republikanischen Ethos, das Demokratie nicht nur als Abstimmung, sondern als Zumutung des Denkens versteht.

Fazit: Ein Hoch auf das Unterschätzte

Es wäre billig, dieses Phänomen allein den Politikern anzulasten. Sie sind Symptom wie Ursache. Denn auch der Wähler, der sich von Authentizität mehr verspricht als von Analyse, trägt zur Lage bei. In einem Land, das seine Dichter in Schulbüchern versteckt und seine Denker ins Kabarett verbannt, wird die politische Bildung zur Sache für Idealisten.

Und doch bleibt Hoffnung. Immer wieder finden sich in Ausschüssen, Redaktionen, Universitäten und, ja, sogar in Parlamenten Menschen, die den aufrechten Gang des Gedankens pflegen. Die nicht laut, aber deutlich sprechen. Und die daran erinnern, dass Bildung nicht elitär ist, sondern die eleganteste Form der demokratischen Verantwortung.

Vielleicht war Johannes Gross’ Diktum „Deutschland ist das Land, wo die Ungebildeten anmaßend sein dürfen‟ nicht als Verdammung gemeint, sondern als melancholische Einladung zur Selbstprüfung. Und wer weiß, vielleicht lässt sich das Land der Anmaßenden ja doch noch überreden, Bildung nicht als Makel, sondern als Möglichkeit zu verstehen.

Dann könnte sogar aus dem Mittelmaß etwas Großes werden, durch Einsicht, nicht durch Einbildung.

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