Wie konnte das geschehen?

Prolog eines Historikers, der in seinem Buch, veröffentlicht im Jahr 2075, auf unsere Gegenwart zurückblickt.

Du hältst dieses Buch in Händen, nicht als Anklage, nicht als Lehrstück, sondern als Zusammensetzung von Fragmenten, Zeugenaussagen, Protokollen und den widerstreitenden Mythen, die sich in den Jahren vor dem großen Umbruch zu einer einzigen, dichten Legende verflüchtigten. Ich schreibe als Historiker einer Epoche, die aus der Distanz gelernt hat, Chronologie und Ursache bis zur Kontur zu sezieren; doch gerade die großen Umbrüche zeigen uns, wie dünn die Schicht ist, die Faktum von Fiktion trennt. Was folgt, ist keine endgültige Wahrheit, sondern eine Rekonstruktion, eine Hypothese in vielen Varianten, über das, was wir später als die Entstehung der Europäischen Diktatur bezeichneten.

Die Quellenlage ist widersprüchlich. Offizielle Verlautbarungen, interne Memos, verzweifelte Tagebücher, durchsickernde Protokolle supranationaler Gremien, Tweets, die wie Funken in einem Sturm standen, und die zahllosen, kaum noch unterscheidbaren Rufe von Angst und Entrüstung. Aus diesem Durcheinander heraus zeichnete sich ein Muster ab: Die Instrumentalisierung von Furcht als politischem Katalysator. Nicht die direkte Gewalt, sondern die beharrliche Suspension normaler Verfahrensweisen, Notlagen, die verlängert, institutionell verfestigt und schließlich in Dauerzustände überführt wurden.

Eine zentrale Erzählung, die sich in der Vorstellungswelt jener Zeit durchsetzte, lautete: Unter dem Deckmantel einer externen Bedrohung, namentlich der permanenten, rhetorisch überhöhten Gefahr aus dem Osten, werde im Innern ein Überwachungs- und Zensurapparat aufgebaut; er diene nicht der Verteidigung eines souveränen Gemeinwesens, sondern mächtigen, teils transnationalen Akteuren, die hinter den Kulissen agierten, multilaterale Organisationen, globale Investoren, private Datenkonzerne. Diese Vorstellung verband reale, fassbare Vorgänge mit spekulativen Behauptungen; sie fungierte als Gravitationsfeld, in dem Legitimes und Anrüchiges gleichsam ineinanderstürzten.

Um dies zu verstehen, muss man einen Schritt zurücktreten und die Mechanik betrachten: Krisen erzeugen Ausnahmezustände; Ausnahmezustände schaffen Macht. In den Jahren, die wir heute retrospektiv als die Periode der Dekonstruktion liberaler Sicherungen bezeichnen, häuften sich Krisen: Gesundheitsnotstände, wirtschaftliche Schocks, Cyberangriffe, lokale Konflikte mit globaler Resonanz. Jede Krise war, so die Logik, ein Beleg für die Notwendigkeit schneller, zentraler Entscheidungen. In einer Demokratie sind schnelle Entscheidungen nie ausgeschlossen, sie bedürfen jedoch der Kontrolle, der Überprüfbarkeit und der Rückkehr zum Normalzustand. Es war nicht die Geschwindigkeit der Entscheidungen selbst, die gefährlich wurde, sondern das Versäumnis, die Übergangsmaßnahmen zu befristen und öffentlich zu legitimieren.

Parallel dazu wuchs die Macht des Informationsmonopols: Plattformen, die einst als offene Räume der Debatte galten, verwandelten sich in Gatekeeper. Die Verbindung von algorithmischer Selektion und ökonomischem Interesse führte zu einer ungleichmäßigen Sichtbarkeit von Informationen. Wer die Narration kontrollierte, gewann Einfluss. In kritischen Momenten erwies sich die bedingungslose Parteinahme großer Mediennetzwerke für staatliche Maßnahmen als Schlüssel, nicht nur als Verstärker, sondern als Filter, der bestimmte Fragen gar nicht erst zur Debatte stellte. Journalismus verwandelte sich an manchen Orten vom Kontrollorgan in einen sekundären Instrumentalisierer staatlicher Kommunikation.

Gleichzeitig nahm die Justiz in Teilen eine aktive Rolle ein, nicht immer aus böser Absicht, oft aus dem Glauben an eine höhere, egalitäre Zielsetzung. Richter, die einst Hüter von Rechten und Freiheiten waren, vollzogen in mehreren Fällen Entscheidungen, die zeitlich befristete Einschränkungen extended, mit dem Argument, hart und entschlossen handeln zu müssen, um die Krise zu beenden. So wurde das Recht zu einem Hebel, der Notstandsmaßnahmen routinemäßig bestätigte, statt sie kritisch zu prüfen. Diese juristische Koop­tation, ob streng ideologisch oder pragmatisch motiviert, war ein entscheidender Faktor beim Übergang von temporärer Sondermacht zu dauerhafter Struktur.

Es ist wichtig, hier zu unterscheiden: Anklagen gegen diffuse Akteure, »WHO, WEF, UN, BlackRock« und andere, waren selten einfach nachweisbar als verschwörerische Einheit. Viel gewichtiger war die Allianz von Interessen: supranationale Institutionen, die nach Koordination riefen; private Kapitalgeber, die Stabilität und Vorhersehbarkeit schätzten; Unternehmen, die von Daten und digitaler Steuerung profitierten; Staaten, die ihre Macht ausdehnen wollten. Diese Bündelung war weniger eine koordinierte Verschwörung als eine Konvergenz situativer Interessen, die in Zeiten der Unsicherheit eine starke Anziehungskraft entwickelte.

Die Sprache tat ihr Übriges. Während die einen von »Plandemie« sprachen und damit die Theorie eines absichtsvollen Plans suggerierten, gingen die anderen in die entgegengesetzte Richtung und erklärten jede abweichende Meinung reflexhaft zur Desinformation. In dieser Linguistik, in der jede Unschärfe mit moralischer Aufladung versehen wurde, verengte sich der öffentliche Raum. Der Diskurs verarmte: Komplexe Fragen wurden zu binären Alternativen und verloren damit die Nuancen, ohne die eine demokratische Meinungsbildung nicht funktionieren kann.

Was dabei besonders tragisch war: Viele Bürger empfanden den Verlust an Freiheiten nicht unmittelbar als Verschwinden demokratischer Strukturen, sondern eher als einen notwendigen Verzicht, um größere Übel zu verhindern. Die Sprache der Fürsorge, Schutz vor Krankheit, vor Chaos, vor wirtschaftlichem Abstieg, wurde zur Legitimation repressiver Maßnahmen. Diese Ambivalenz zwischen Fürsorge und Kontrolle war die seelische Atmosphäre, in der die Diktatur Wurzeln schlug: Der Mechanismus der Zustimmung lief nicht durch offene Gewalt, sondern durch das Versprechen von Sicherheit.

An dieser Stelle folgt die Frage nach dem Widerstand. Die Erfahrung jener Jahre zeigt: Widerstand tritt am ehesten dort auf, wo unabhängige Informationskanäle verbleiben. Daher war die sukzessive Schließung ebenjener Kanäle, durch Regulierung, Übernahme, finanziellen Druck oder subtile Zensurmechanismen, strategisch entscheidend. In meiner Rekonstruktion spielten nicht nur Gesetze und Algorithmen eine Rolle, sondern das schrittweise Verschwinden der Infrastruktur, die kollektive Kritik überhaupt erst möglich machte. Wenn der Raum der Meinung immer kleiner wird, schrumpft auch die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich gegen Fehlentwicklungen zu formieren.

Warum also gelang der Übergang zur europäischen, autoritären Form, die wir heute kennen? Die Antwort liegt in der Kombination aus struktureller Offenheit gegenüber Notstandsinstrumenten, ökonomischer Interessenverflechtung, moralisch aufgeladenen Sprachmustern und der Schwächung öffentlicher Gegenöffentlichkeiten. Ein Staat, der die Macht hat, jeden Akt zu überwachen, jede Rede zu hören, jede finanzielle Bewegung zu analysieren, ist nicht automatisch totalitär, doch die Tempi, in denen solche Macht eingesetzt wird, bestimmen den Charakter des Regimes. In unserem Fall war es die Normalisierung des Ausnahmezustands: Er wurde zum dauerhaften Modus.

Als Historiker kann ich nicht ohne Ironie hinnehmen, dass jene, die einst für globale Solidarität oder für das Ende der Märkte eintraten, durch ihre Bündnisbereitschaft mit autoritären Mitteln zum Katalysator ihres eigenen Verlusts an demokratischer Kontrolle wurden. Die großen Namen auf den Protokollen, internationale Organisationen, Fonds, Tech-Konzerne, erscheinen heute in der kollektiven Erinnerung wie Beschleunigerprozesse: nicht die alleinigen Lenker, eher die Motoren einer Maschine, die erst in Bewegung geraten musste, damit sie richtig funktioniert.

Dieser Prolog will keinen fertigen Schuldigen präsentieren. Vielmehr möchte er die Mechanismen sichtbar machen, die wir später identifizierten: Angst als Währung, Recht als Schmiermittel, Marktinteressen als Verstärker, und Informationskontrolle als Schlüsselinstrument. Es ist die Geschichte davon, wie aus der Trägheit demokratischer Institutionen und der Erosion öffentlicher Diskurse eine Form von Herrschaft erwuchs, die subtil begann und dann mit rücksichtsloser Systematik sicherte, was sie eroberte.

Wenn Du weiterliest, wirst Du Zeugenberichte finden, gerichtliche Einschätzungen, Auszüge aus Protokollen und fiktionalisierte Rekonstruktionen, Material, das oft widersprüchlich ist, aber gerade deshalb aufschlussreich: Widersprüche sind die Knotenpunkte historischer Veränderung. Ich bitte Dich, das Gelesene nicht als ein endgültiges Urteil, sondern als Einladung zu denken: Wie konnte es soweit kommen? Welche Schritte hätten anders verlaufen können? Welche Institutionen hätten standhafter sein müssen? Und nicht zuletzt: Welche Sprache hätten wir vermeiden sollen, damit Sorge nicht länger zur Legitimation von Macht wird?

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