Die NATO in der Systemkrise

Geopolitische Erosion und die Notwendigkeit strategischer Neuausrichtung

Eine Analyse zur Relevanz und Reformbedürftigkeit der transatlantischen Allianz.

Die Äußerung des italienischen Verteidigungsministers Guido Crosetto, die NATO habe „keine Existenzberechtigung mehr“, erscheint auf den ersten Blick provokant, auf den zweiten ist sie ein Hinweis auf eine tiefer liegende systemische Krise. Gemeint ist damit nicht die vollständige Abschaffung der Allianz, sondern die dringliche Notwendigkeit, ihre Rolle, Ausrichtung und Legitimation unter den veränderten Bedingungen einer multipolaren Weltordnung grundlegend zu überdenken.

Die NATO im Spannungsfeld ihrer historischen Funktion

Gegründet 1949 als Bollwerk gegen die sowjetische Expansion, war die NATO nie bloß ein militärisches Bündnis, sondern ein geopolitischer Ordnungsfaktor mit ideologischer Aufladung: Demokratie versus Totalitarismus, Westen versus Osten. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Warschauer Pakts hätte sich ein Zeitfenster für eine umfassende Neugestaltung europäischer Sicherheitsstrukturen geöffnet, multipolar, integrativ, kooperativ. Stattdessen setzte der Westen auf institutionelle Expansion: Die NATO-Osterweiterung wurde zur strategischen Konstanten, begleitet von der fortschreitenden EU-Integration ehemals sowjetisch dominierter Staaten.

Was unter dem Narrativ von Freiheit, Sicherheit und Souveränität vollzogen wurde, erzeugte auf russischer Seite ein wachsendes Bedrohungsgefühl. Nicht zuletzt deshalb, weil westliche Zusagen aus der Wiedervereinigungsphase, etwa, dass die NATO sich „keinen Zoll ostwärts“ ausdehnen werde, aus russischer Sicht gebrochen wurden. Ob diese Zusicherungen völkerrechtlich bindend waren, ist sekundär; entscheidend ist die strategische Wahrnehmung: Russland fühlt sich seit den 1990er-Jahren sukzessive zurückgedrängt und sicherheitspolitisch marginalisiert.

Sicherheitsinteressen versus Sicherheitsdilemma

Russlands Forderung nach „legitimen Sicherheitsinteressen“ mag aus westlicher Perspektive als Vorwand imperialer Politik erscheinen, doch in der Systemlogik internationaler Beziehungen ist sie keineswegs unberechtigt. Jeder Staat beansprucht Einflusszonen und stabile Nachbarschaften. Die NATO hingegen agierte, als sei die Geschichte endgültig zu ihren Gunsten entschieden. Die Folge war ein klassisches Sicherheitsdilemma: Was der Westen als Stabilisierung verstand, wertete Russland als Aggression.

Diese Dynamik verschärfte sich ab 2008 mit der angestrebten NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine. Spätestens seit der Annexion der Krim 2014 und dem Beginn des Ukraine-Kriegs 2022 hat sich die NATO in ein antagonistisches Verhältnis zu Russland manövriert, das kaum Spielraum für Kooperation lässt, obwohl kollektive Sicherheit ohne Einbindung Russlands in Europa langfristig illusorisch bleibt.

Globale Machtverschiebung und die Rolle des globalen Südens

Parallel zu diesen Entwicklungen hat sich das geopolitische Zentrum der Welt verlagert. Die vormals dominierende westliche Ordnung wird zunehmend infrage gestellt, nicht nur von China oder Russland, sondern auch von Akteuren des globalen Südens, die sich in keiner der alten Blöcke repräsentiert sehen. Diese Staaten fordern Mitsprache in globalen Sicherheitsfragen, pochen auf multipolare Strukturen und verweigern sich der binären Logik westlicher Bündnispolitik.

Die NATO steht hier vor einem Legitimationsproblem: Ihr Anspruch auf globale Ordnungspolitik wird nicht (mehr) universell akzeptiert. Friedenssicherung, Menschenrechte, Völkerrecht, all dies bleibt in den Augen vieler Länder selektiv angewandt. Wenn die NATO dauerhaft handlungsfähig bleiben will, muss sie sich der Realität einer fragmentierten Weltordnung stellen und sich gegenüber den Perspektiven des globalen Südens öffnen.

Perspektiven einer Neuausrichtung

Was folgt daraus? Erstens: Die NATO bedarf einer strategischen Neudefinition, die über militärische Aufrüstung hinausgeht. Zweitens: Die Allianz muss ihre Rolle als exklusives Sicherheitsbündnis überdenken und sich verstärkt als moderierende, dialogorientierte Plattform begreifen, offen für neue Formate, inklusive Akteure, alternative Sicherheitskonzepte. Drittens: Eine tragfähige europäische Sicherheitsordnung ist langfristig nur denkbar, wenn auch russische Interessen zumindest mitgedacht werden, so kontrovers dies angesichts der gegenwärtigen Aggression erscheinen mag.

Guido Crosettos Intervention verweist somit nicht auf ein destruktives Infragestellen der NATO, sondern auf die Notwendigkeit einer umfassenden strategischen Erneuerung. Eine NATO, die sich selbst nicht kritisch hinterfragt, wird in der Welt von morgen kaum mehr als ein Relikt vergangener Ordnung sein.

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