Das Verlöschen des Feuers

Wenn der Baal-schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgendein Werk zum Nutzen der Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Wald, zündete ein Feuer an und sprach, in Meditationen versunken, Gebete. – und alles, was er dann unternahm, geschah, wie er es sich vorgenommen hatte.

Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritsch vor einem großen Vorhaben stand, ging er an jene Stelle im Wald und sagte: „Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen.“ – und nachdem er sie gesprochen hatte, ging alles nach seinem Plan.

Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Löb aus Sassow eine große Tat vollbringen. Auch er ging in den Wald. Dort sagte er: „Wir können das Feuer nicht mehr anzünden, wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben. Aber wir kennen den Ort im Wald, wo all das hingehört, und das muss genügen.“ – und es zeigte sich, dass es tatsächlich genügte.

Als wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rizsin ein großes Werk zu vollbringen sich vorgenommen hatte, da setzte er sich zu Hause auf einen Stuhl und sagte: „Wir können kein Feuer machen, wir können die vorgeschriebenen Gebete nicht mehr sprechen, wir kennen auch den Ort im Wald nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.“ – und seine Geschichte allein hatte dieselbe Wirkung wie das, was die drei anderen getan hatten.

Zitiert aus Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1980, S. 384.

Haben wir nicht auch längst das Feuer verloren? Damit eine Gesellschaft funktioniert, bedarf es der kontinuierlichen Flamme des Generationen übergreifenden Bewusstseins für die historische Kontinuität. Gerade diese ist jedoch seit den späten 60er Jahren zerstört worden. Die verhängnisvolle Reduzierung der Deutschen Geschichte auf die zwölf Jahre des Nationalsozialismus hat das Feuer des gesellschaftlichen Zusammenhalts und das Wissen um die so dringend benötigte geschichtliche Konstanz zerstört.

Wichtig für das Weitertragen des Feuers ist die Familie, deren Bild in den letzten Jahren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurde. Sie, die Keimzelle jeder funktionierenden Gesellschaft, wurde für eine Ideologie geopfert, deren Auswüchse wir heute beklagen müssen. Geschlecht sei ein gesellschaftliches Konstrukt, so der Gender-Wahn, der, ohne Rücksicht auf biologische Konstanten, eine soziale Dystopie inszeniert, die die Axt unmittelbar an das Fundament des Gemeinwesens legt.

Uns ebenfalls abhanden gekommen ist das Gebet, nämlich die Kommunikation zwischen den Generationen. Das Wissen, die Erlebnisse, die Frage, „wie konnte es dazu kommen“ hinsichtlich des Dritten Reiches, der gesamte historische Kontext wurde auf dem Altar der Entnazifizierung geopfert. Keine Frage, die Schuldigen mussten gefunden und bestraft werde. Doch wer waren die Schuldigen? Ein ganzes Volk oder einige wenige, die sich an den Hebeln der Macht befanden? Mitläufer und vom System Profitierende?

Niemand der „gnadenvoll Spätgeborenen“ hat sich dafür interessiert, warum der Nationalsozialismus zu Beginn so viele Menschen fasziniert hat und warum, je länger er wütete, nur wenige es wagten, abweichender Meinung zu sein. Jede Wette, alle diejenigen, die sich heute für verspätete Widerstandskämpfer halten, hätten sich 1942 in die Hosen geschissen, wenn um 4:00 Uhr früh die Ledermäntel der Gestapo an der Tür geklingelt hätten. Widerstand 2017 ist eben etwas Ungefährlicheres als Widerstand zwischen 1933 und 1945.

Zugleich mit dem Unterbrechen der im Idealfall in beide Richtungen – alt/jung, jung/alt – stattfindenden Kommunikation, fand ein sukzessiver Zusammenbruch des Bildungssystems der Bundesrepublik statt, das dem Wirtschaftssystem zwar noch genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stellt, diese jedoch größtenteils nicht mehr in der Lage sein dürften, wenigstens drei für Deutschland wichtige Jahreszahlen zu benennen.

Auch der Ort, ich benutze bewusst das politisch höchst verdächtige Wort Heimat, ist uns inzwischen nicht mehr gewiss. Gefangen zwischen digitalem Nichts und längst vollzogener Entwurzelung taumeln die meisten im Ungefähr zwischen Kommerz und Verlorenheit. Vom Zeitgeist getrieben, unbelastet vom Wissen über die Geschichte ihrer Vorfahren, hat der hippe, aber heimatlose Mensch längst sein Ziel aus den Augen verloren.

Wird uns nicht vonseiten eines Maß und Mitte verlustig gegangenen polit-medialen Kartells immer wieder versichert, dass unsere Geschichte und damit auch wir grenzwertig sind, dass wir im historischen Kontext bestenfalls ein Ausrutscher, eine Fehlkonstruktion, ein Inzuchtprodukt (Wolfgang Schäuble) sind, und die eigentlich Besseren, die Zukunft Bestimmenden, die sind, „die noch nicht so lange hier leben“. (Angela Merkel)?

Alles, was wir noch zu besitzen meinen, ist die Erzählung davon, wie es gelungen ist, dort hinzukommen, wo wir uns jetzt befinden. Doch nur wenigen dürfte klar sein, dass wir schon lange von Voraussetzungen leben, die wir nicht geschaffen haben, von denen sogar bezweifelt werden muss, ob wir überhaupt noch dazu in der Lage wären, sie zu schaffen oder deren Ergebnisse wenigstens fortzuführen.

Am Ende wird jedoch auch die Erzählung verschwinden, aus dem Grund, weil niemand mehr da sein wird, dem sie noch geläufig wäre.

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