Die Franklin-Expedition – Mythos der Moderne

„Das weiße Grab der Hoffnung“ – Die Franklin-Expedition als Mythos der Moderne

„The Arctic is a terrible place. But it is also a truthful place.“
— Margaret Atwood, Strange Things: The Malevolent North in Canadian Literature, 1995

Als Sir John Franklin am 19. Mai 1845 England verließ, trug ihn der Wind nicht nur in Richtung der Nordwestpassage, sondern in das Innere eines kulturellen Traums – und dessen jähen Zusammenbruch. Die als Triumph britischer Technik und Disziplin konzipierte Franklin-Expedition endete im lautlosen Scheitern und wurde posthum zur Projektionsfläche für heroische, moralische und metaphysische Deutungen. Was bleibt, ist mehr als eine historische Tragödie: ein moderner Mythos.

Die Ästhetik des Verschwindens

Das Verstummen der Schiffe Erebus und Terror, die mit Kohledampf, Konservendosen und Kupferrohren gegen das Eis antraten, wirkt heute wie ein Sinnbild jener „Zumutung des Realen“, die Jean Baudrillard als Charakteristikum postheroischer Weltsicht beschreibt. Keine Signale, keine Überlebenden, keine Rückkehr – nur das Schweigen der Arktis. Das „weiße Grab“, wie es später genannt wurde, wurde zum Resonanzraum viktorianischer Imagination.

In Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit (1983) erscheint Franklin als Gegenfigur zur linearen Moderne: ein kontemplativer Melancholiker in einer Welt der Raserei. Seine Langsamkeit wird zur Tugend – ja zur Erkenntnisform. Nadolny lässt Franklin denken:

„Wer langsam ist, hat mehr Zeit zum Sehen, zum Hören, zum Denken. […] Die Geschwindigkeit macht blind.“
(Nadolny, 1983, S. 215)

Das Verschwinden wird so nicht zum bloßen Verlust, sondern zur poetischen Umkehrung imperialer Geschwindigkeit.

Fortschritt als Fessel

Die Franklin-Expedition scheiterte nicht an Mangel, sondern an Überfluss: an zu viel Technik, zu viel Ordnung, zu wenig Offenheit. Die Konservendosen, modern verschlossen mit Bleilot, führten zur schleichenden Vergiftung der Mannschaft. Die dampfbetriebenen Schrauben waren nutzlos im Packeis. Die Uniformen hielten keine Bewegung aus, und der militärische Gehorsam war ein Hindernis im Überlebenskampf.

In Frozen in Time (Beattie/Geiger, 1987), einer bahnbrechenden forensischen Analyse, heißt es nüchtern:

„These were not men defeated by nature, but by misjudgment—cultural, medical, and logistical.“
(Beattie & Geiger, 1987, S. 121)

Die ignorierte Lebensweise der Inuit – leichtes Gepäck, flexible Kleidung, organisches Wissen – wurde von der britischen Führung als „primitiv“ abgetan. Diesem kolonialen Hochmut setzte der schottische Entdecker John Rae später die bittere Wahrheit entgegen: Die letzten Überlebenden, so berichteten Inuit-Augenzeugen, waren zu Kannibalismus gezwungen.

Der Mythos als Widerhall

Dan Simmons’ Roman Terror (2007) treibt die Erzählung ins Übernatürliche. Die Expedition wird dort von einem urzeitlichen Wesen verfolgt – einem Symbol für das Unverstandene, das Uralte, das dem imperialen Weltbild nicht einzuhegen ist. Die Arktis ist hier kein leerer Raum, sondern ein Widerpart zur westlichen Ordnung. Simmons schreibt:

„This place is not ours. It never was.“
(Simmons, 2007, S. 489)

Auch die TV-Adaption (AMC, 2018) verstärkte diese Lesart: Der Schnee wird zur Bühne einer metaphysischen Prüfung, das Eis zur Ethik. Die Männer kämpfen nicht nur ums Überleben, sondern um Deutungshoheit über eine Welt, die ihnen nicht gehört.

Der Nachhall

Mit der Entdeckung der Wracks von Erebus (2014) und Terror (2016) durch kanadische Archäologen schien das Rätsel einen archäologischen Abschluss zu finden. Und doch bleibt das Echo. Russell A. Potter, Historiker und Autor von Finding Franklin (2016), fasst es prägnant:

„The true story of Franklin’s fate is not an ending, but a beginning – of how we learn to listen to the North, rather than speak over it.“
(Potter, 2016, S. 204)

So wird aus dem heroischen Narrativ ein Mahnmal: für die Notwendigkeit des kulturellen Zuhörens, für die Begrenztheit technischen Denkens und für die Relevanz indigener Perspektiven.

Literaturverzeichnis (Auswahl)

  • Beattie, Owen & Geiger, John: Frozen in Time: The Fate of the Franklin Expedition. Bloomsbury, 1987.
  • Nadolny, Sten: Die Entdeckung der Langsamkeit. Piper Verlag, 1983.
  • Potter, Russell A.: Finding Franklin: The Untold Story of a 165-Year Search. McGill-Queen’s University Press, 2016.
  • Simmons, Dan: The Terror. Little, Brown, 2007.
  • Atwood, Margaret: Strange Things: The Malevolent North in Canadian Literature. Oxford University Press, 1995.

Essay, stilistisch überarbeitet und erweitert mit Unterstützung von ChatGPT

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