Intensive Gefühle trüben bekanntlich die Fähigkeit zu rationalem Denken. Das konnte der aufmerksame Beobachter des politischen Zeitgeists unlängst an den Ergebenheitsadressen der „Qualitätsjournalisten“ und den Huldigungen des polit-medialen Komplexes in Richtung unserer Majestät, Angela die Große, hinsichtlich ihrer „Maß und Mitte“ Rede an das gemeine Volk wieder einmal feststellen. Substanzlos, mit Floskeln gespickt und von nichts sagenden Sprachhülsen nur so triefend, so jedenfalls der Eindruck des Beobachters, war es hauptsächlich die Claque der Macht, die Vertreter der Hofberichterstattungspresse, welche lautstark die Ansprache der GröKaZ bejubelten.
Konnte sich ein noch seines kritischen Verstandes bedienender Zeitgenosse danach nur knapp dem Gefühl des „ich muss gleich Kotzen“ erwehren, dann dürfte nach dieser Eloge auf Gerhard Schröder und Angela Merkel von Malte Lehming im Berliner Tagesspiegel sofortiges Erbrechen nicht mehr zu verhindern sein.
Wir müssen, so der Autor der Lobpreisung, Schröder und Merkel dankbar sein, weil sie – Schröder mit der Agenda 2010 und die Regierungen Merkel mit deren Sparprogrammen, genauer gesagt, mit deren Austeritätsprogrammen – Deutschland international wieder wettbewerbsfähig gemacht haben. Das mag vielleicht „nach mehrheitlicher Auffassung der Ökonomen“, also mit Phantasie begabten Kaffeesatzlesern, der Fall sein, doch die Situation an der Basis, die gesellschaftliche Realität und die Wahrnehmung der Bevölkerung sieht dann doch etwas anders aus.
Verkehrswege, Straßen, Brücken und ein großer Teil der Infrastruktur wurde kaputt gespart. Hinsichtlich der hiesigen maroden Brücken fällt mit spontan ein, mit welchen Aussagen sich Politiker über den Einsturz des Polcevera-Viadukts, eine innerstädtische vierspurige Autobahnbrücke in Genua, zu Wort meldeten. Diese Katastrophe sei zwar tragisch, könne jedoch, so der damalige Politsprech, in Deutschland nicht geschehen, da hierzulande – und damit unterschwellig behauptend, das passiere eben nur bei der typisch italienischen Lebensauffassung – regelmäßige Kontrollen einschlägiger Bauwerke stattfinden würden. Komisch nur, dass danach still und leise auch hierzulande diverse Brücken gesperrt wurden oder der Verkehr auf ihnen zumindest drastisch eingeschränkt.
Schulen und Kindertagesstätten befinden sich oft in einem erbarmungswürdigen Zustand und die sanitären Verhältnisse stinken, der Autor konnte sich in den Bildungsstätten seiner Kinder davon überzeugen, sprichwörtlich zum Himmel. Unterrichtsausfall wegen Krankheit oder fehlendem Lehrpersonal ist inzwischen die Regel und seit Jahren Bestandteil der bundesweiten Bildungskatastrophe.
Krankenhäuser sind ebenfalls in Grund und Boden saniert worden, was jetzt hinsichtlich der Corona-Epidemie deutlich wird. Pflegepersonal, schlecht bezahlt und leider mit wenig gesellschaftlicher Reputation versehen, ist ebenfalls Mangelware, denn schließlich wollen die Aktionäre des überwiegend privatisierten Gesundheitssystems nicht auf ihre Dividenden verzichten.
Gerichte sind mangels Richtern und einer steigenden Kriminalität überlastet, Polizisten und Ordnungskräfte fehlen, ebenso Mitarbeiter in den Bürgerämtern, wo derzeit das Warten auf einen Termin schon mal drei Monate betragen kann.
Die von Malte Lehming festgestellte „Solidisierung des Wirtschaftsstandorts Deutschland“ hat natürlich Opfer, das muss auch der Autor zugeben. „Zum Wider zählen der hohe Niedriglohnsektor, die Armutsfalle, die gestiegene Zahl der Leiharbeiter, das Los der Minijobber, die permanente Angst vor dem Absturz“. Sind halt Kollateralschäden, die man, besser ausgedrückt, die globalisierte Wirtschaft in Kauf nehmen muss. Durch Schröder und Merkel, so der „Qualitätsjournalist“, ist Deutschland in der Lage, „groß zu denken und groß zu handeln“. Deshalb, so die in Liebe erblindete Edelfeder, müssen wir dankbar sein.
Die Geschichte, wird, so Lehming zu Beginn seiner Lobeshymne, gerecht über Menschen urteilen. Wenn sie das wirklich macht – und nicht etwa Angehörige des polit-medialen Kartells – dann wird sie freilich zu einer etwas anderen, einer realistischeren Beurteilung kommen, und die dürfte weder für Schröder noch für Merkel schmeichelhaft sein.