NEOM und das kulturelle Gedächtnis urbaner Räume
In einer Welt, die sich im Spannungsfeld zwischen technologischer Disruption und ökologischer Verantwortung neu erfindet, avancieren Städte zu Projektionsflächen für Utopien. Saudi-Arabiens Megaprojekt NEOM, insbesondere die visionäre Line City, verkörpert in radikaler Konsequenz diesen Entwurf einer futuristischen Urbanität. Was jedoch in der technokratischen Rhetorik von Autonomie, Nachhaltigkeit und digitaler Perfektion zu kurz kommt, ist eine Dimension, die für die lebensweltliche Verankerung von Städten unerlässlich ist: das kulturelle Gedächtnis.
Kulturelles Gedächtnis ist mehr als historisches Archiv. Es ist das organische Netzwerk aus gelebter Geschichte, sozialer Imprägnierung und räumlicher Bedeutung, das urbane Räume mit Identität auflädt. Es findet sich in der Patina alter Gebäude, im Namen eines Marktplatzes, in der überlieferten Funktion einer Straßenecke. Es schafft emotionale Tiefe, weil es Narrative trägt; von Menschen, von Konflikten, von Bedeutungen, die über Generationen sedimentiert sind. Eine Stadt ohne Gedächtnis bleibt ein abstrakter Raum, ohne Resonanzkörper für ihre Bewohner.
NEOM hingegen setzt auf die radikale Tabula rasa.
Es entwirft eine Stadt ex nihilo. In der Wüste, ohne gewachsene Struktur, ohne organische Entwicklung, ohne das Echo einer Vergangenheit. Dieser Bruch mit jeder Form historischer Kontinuität wird nicht kaschiert, sondern zelebriert: The Line, ein 170 Kilometer langer urbaner Streifen, abgeschottet, versiegelt, linearisiert, soll die menschliche Zivilisation neu codieren. Die Architektursprache spricht von Effizienz, nicht von Erinnerung; von Funktion, nicht von Atmosphäre. Es ist ein Projekt, das die Stadt nicht als Palimpsest versteht, sondern als perfektes, glänzendes Interface.
Gerade dieser Absolutheitsanspruch offenbart jedoch eine tiefe Schwäche. Denn Städte, die ausschließlich funktional und technologisch gedacht sind, scheitern häufig an der Unverfügbarkeit jener lebendigen Qualität, die nur durch Zeit, Brüche und Aneignung entsteht. Masdar City in den Vereinigten Arabischen Emiraten etwa, einst als CO₂-neutrale Vorzeigestadt gefeiert, blieb über weite Strecken seelenlos. Songdo in Südkorea, durchdigitalisiert bis in die Fußgängerzone, wirkt steril, gleichförmig, beinahe menschenfern. Beide Projekte vernachlässigten jene narrative Tiefe, die urbane Räume zu Identitätsräumen macht.
Besorgniserregend ist zudem, dass NEOM nicht nur kein Gedächtnis besitzt, sondern aktiv Erinnerung auslöscht. Die Umsiedlung des Huwaitat-Stammes, jener Menschen, die über Generationen mit der Region verwurzelt waren, st mehr als eine sozioökonomische Maßnahme: Sie ist die Negation einer gelebten Geschichte. Die technologisierte Vision wird auf den Trümmern eines kulturellen Ortes errichtet, dessen Stimmen im urbanistischen Vokabular des Fortschritts zum Verstummen gebracht wurden.
Doch es gäbe Alternativen. Städte wie Barcelona oder Istanbul zeigen, wie sich historisches Erbe und zeitgenössische Innovation wechselseitig befruchten können. Auch eine Stadt wie NEOM könnte kulturelle Tiefe gewinnen; nicht durch Rekonstruktion, sondern durch partizipative Erinnerung. Indem man regionale Erzählungen, Beduinenkultur, Poesie und Alltagstraditionen räumlich erfahrbar macht. Indem man Stadtbewohner zu Mitgestaltern ihrer Umwelt macht, nicht zu Konsumenten eines fertig programmierten Raumes. Und indem man der Wüste nicht die Geschichte entreißt, sondern ihr das Recht auf Gedächtnis zurückgibt.
Denn am Ende wird sich die Frage stellen: Wird NEOM ein Ort, der nur „funktioniert“ oder ein Ort, der auch „bedeutet“? Die Antwort hängt nicht von Spiegelglas, künstlicher Intelligenz oder Hyperloop-Verbindungen ab, sondern davon, ob sich Menschen dort erinnern können, an etwas, das größer ist als die Vision selbst: an ihre eigene Geschichte im Raum.