Berlin, Sehnsuchtsort der Kaputten

Die Metropole des gewollten Verfalls

Es gibt Städte, die von Geschichte erzählen, andere von Fortschritt – und dann gibt es Berlin. Eine Stadt, die sich nicht mehr erklären will, weil sie längst zur Chiffre geworden ist: für Dreck, Dekadenz und die glorifizierte Gleichgültigkeit. Was anderswo als Scheitern gilt, ist hier ästhetisches Konzept. Wer scheitert, ist nicht am Ende, er ist angekommen.

Berlin lebt vom Mythos des Kaputten. Nicht nur im architektonischen Sinne, obwohl der sich eindrucksvoll durch bröckelnde Fassaden, speckige Altbauflure und uringetränkte U-Bahn-Aufgänge ins Stadtbild einschreibt. Nein, der Zerfall ist auch sozialer, kultureller und – nicht zuletzt – performativer Natur. Man gibt sich hier nicht mit Mittelmaß zufrieden. Man geht direkt ins Prekäre, wenn möglich mit Haltung.

Wer nach Berlin zieht, und das tut man ja bekanntlich nicht, man „kommt an“, der kommt oft nicht, um etwas zu werden, sondern um endlich nichts mehr sein zu müssen. Die Stadt fungiert als Refugium der Erschöpften, als Kurort für gescheiterte Lebensentwürfe. Kein Ort in Deutschland verzeiht derartig gnadenloses Herumirren und keiner verlangt dafür so wenig wie Berlin: ein bisschen Stilbruch, ein bisschen Desinteresse, ein bisschen Dreck unter den Fingernägeln.

Besonders deutlich wird das in der Subkultur. Jener eigentümlichen Melange aus Kunst, Konsumkritik und Hedonismus, die sich irgendwo zwischen besetzten Häusern, Darkrooms und modifizierten Turntables abspielt. Die Subkultur Berlins ist nicht tot, sie riecht nur manchmal ein bisschen streng. Wo früher echte Gegenentwürfe zum Mainstream erprobt wurden, wird heute ironisch mit Bauzäunen dekoriert und der Kapitalismus mit dem neuesten iPhone kritisiert. Man klebt sich ein Palituch um den Hals, diskutiert über Gentrifizierung und bezahlt den Negroni trotzdem mit Apple Pay.

Und doch: Etwas an dieser Stadt funktioniert. Oder besser gesagt, es funktioniert gerade dadurch, dass es nicht funktioniert. Berlin ist kein Ort der Lösungen, sondern der offenen Enden. Ein ständiges Vielleicht. Eine Verheißung für jene, die in festen Strukturen nicht atmen können. Die Verweigerung wird hier nicht nur geduldet, sie wird regelrecht zelebriert. Man muss kein Ziel haben, es reicht, wenn man nicht dorthin will, wo alle anderen schon waren.

Der Müll auf den Straßen? Urbanes Stillleben. Die kaputte Gegensprechanlage? Authentizität. Die Mischung aus Drill und Delirium, aus Lethargie und Lautstärke, sie ergibt einen Rhythmus, den man nur hier versteht. Berlin ist ein unvollendetes Gedicht, mit Edding auf eine Hauswand geschrieben, halb übermalt, halb vergessen.

Natürlich ist all das längst auch zur Ware geworden. Die Subkultur, einst rebellisch, ist heute vermarktbar. Der Widerstand trägt Festivalbändchen, und die einstige Verweigerung ist in vielen Fällen nicht mehr als ein ästhetisches Statement. Aber selbst das gehört zur großen Ironie dieser Stadt, die sich immer noch als „arm, aber sexy“ versteht, obwohl sie inzwischen teuer und erschöpft ist.

Am Ende bleibt Berlin das, was es immer war: eine Projektionsfläche für den inneren Aufruhr. Ein Ort, an dem die Suche wichtiger ist als das Finden. Und vielleicht liegt darin tatsächlich ein letzter Funken Wahrheit in dieser Metropole, die sich selbst längst aufgegeben hat, aber genau deshalb so viele anzieht, die es ihr gleichtun wollen.

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