Vom Hass auf Könige zum Wunsch, selbst König zu sein
I. Das Paradoxon der Macht
„Der Kalfaterersmaat Cornelius Hickey hasste Könige und Königinnen. Für ihn waren sie alle blutsaugende Schmarotzer am Allerwertesten des Staatskörpers. Doch er stellte fest, dass es ihm durchaus behagte, selbst König zu sein.” (Dan Simmons, Terror)
In diesem kurzen Satz offenbart sich ein fundamentales Paradoxon der menschlichen Natur: die gleichzeitige Verachtung bestehender Machtstrukturen und die heimliche Sehnsucht, selbst Macht auszuüben. Cornelius Hickey, ein einfacher Kalfaterersmaat, also ein Handwerker niedrigen Ranges auf einem Schiff, dessen Aufgabe es ist, Ritzen und Spalten abzudichten, verkörpert diesen Widerspruch in seiner reinsten Form. Seine vulgäre Ablehnung der Monarchie („blutsaugende Schmarotzer am Allerwertesten des Staatskörpers“) steht in scharfem Kontrast zu seiner eigenen Entdeckung, dass ihm die Position des Herrschers durchaus zusagt.
Dieses Paradoxon ist keineswegs auf fiktive Charaktere beschränkt, sondern durchzieht die gesamte Menschheitsgeschichte wie ein roter Faden. Von den Jakobinern der Französischen Revolution, die nach dem Sturz der Monarchie selbst zu Tyrannen wurden, bis hin zu modernen politischen Bewegungen, die gegen „Eliten“ wettern, während sie selbst nach absoluter Macht streben, immer wieder zeigt sich die Ambivalenz zwischen der Kritik an Machtstrukturen und dem eigenen Machtstreben.
In unserer heutigen Zeit hat dieses Phänomen besondere Brisanz erlangt. In einer Welt, in der traditionelle Hierarchien zunehmend in Frage gestellt werden, in der soziale Medien jedem eine Stimme verleihen und in der gleichzeitig neue Formen der Machtkonzentration entstehen, manifestiert sich Hickeys Paradoxon auf vielfältige Weise. Die Kritik an bestehenden Machtstrukturen, seien es Monarchien, wirtschaftliche Eliten oder politische Systeme, geht oft Hand in Hand mit dem Aufbau neuer Machtstrukturen, die mitunter ebenso problematisch sind wie jene, die sie ersetzen sollen.
Dieser Essay unternimmt eine zeitgeistkritische Analyse dieses Phänomens, ausgehend von der Figur des Cornelius Hickey und seiner widersprüchlichen Haltung zur Macht. Dabei werden sowohl historische als auch aktuelle Manifestationen dieses Paradoxons beleuchtet, um zu verstehen, warum der Mensch so oft zwischen Machtkritik und Machtstreben oszilliert und welche Konsequenzen dies für unsere Gesellschaft hat.
II. Historische Perspektive: Vom Hass auf Könige zum Wunsch, selbst König zu sein
Die Geschichte ist voll von Beispielen für Menschen und Bewegungen, die gegen bestehende Machtstrukturen rebellierten, nur um nach erfolgreicher Revolution selbst zu Machthabern zu werden, die oft ebenso autoritär herrschten wie ihre Vorgänger. Dieses Phänomen lässt sich besonders deutlich an der Französischen Revolution beobachten. Die Revolutionäre, die im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Monarchie stürzten, errichteten unter Robespierre ein Terrorregime, das Tausende Menschen auf die Guillotine schickte. Aus dem Kampf gegen die Tyrannei des Königs entstand eine neue Form der Tyrannei, die schließlich in der Kaiserkrönung Napoleons gipfelte, ein Mann aus einfachen Verhältnissen wurde selbst zum Monarchen.
Ähnliche Muster zeigten sich in der Russischen Revolution, wo die Bolschewiki nach dem Sturz des Zaren ein totalitäres System errichteten, das in vieler Hinsicht repressiver war als das zaristische Regime. Die Kritik an der Ausbeutung durch die Aristokratie wich der Errichtung einer neuen Nomenklatura, einer privilegierten Klasse von Parteifunktionären, die über enorme Macht und Privilegien verfügten.
Diese historischen Beispiele verdeutlichen, was der Philosoph Friedrich Nietzsche als den „Willen zur Macht“ bezeichnete, einen fundamentalen Trieb des Menschen, der oft hinter idealistischen Fassaden verborgen liegt. Die Kritik an bestehenden Machtstrukturen dient dabei häufig als moralische Rechtfertigung für den eigenen Machtanspruch. Der Revolutionär, der den König als Tyrannen bezeichnet, legitimiert damit seinen eigenen Anspruch, an dessen Stelle zu treten.
George Orwells „Farm der Tiere“ illustriert dieses Phänomen meisterhaft: Die Schweine, die zunächst die Gleichheit aller Tiere proklamieren, entwickeln sich zu neuen Unterdrückern, die schließlich verkünden: „Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher als andere.“ Diese literarische Parabel spiegelt die reale Dynamik wider, die sich in zahllosen revolutionären Bewegungen gezeigt hat.
Der Kalfaterersmaat Hickey steht in dieser Tradition. Als Mann aus der Arbeiterklasse, der täglich die harte Realität körperlicher Arbeit erlebt, entwickelt er einen verständlichen Hass auf die privilegierte Klasse der Monarchen. Doch sein Hass ist nicht nur von einem Gerechtigkeitssinn getrieben, sondern auch von einem unterdrückten Neid und dem Wunsch, selbst die Privilegien zu genießen, die er bei anderen so vehement kritisiert.
III. Moderne Monarchien: Anachronismus im 21. Jahrhundert
In unserer heutigen Zeit erscheinen Monarchien vielen als Anachronismus, als Relikte einer vergangenen Epoche, die im Widerspruch zu demokratischen Werten und modernem Gleichheitsdenken stehen. Dennoch existieren weltweit noch 43 Monarchien, die etwa 22 Prozent aller Staaten ausmachen, wie eine Analyse von treffpunkteuropa.de aus dem Jahr 2024 zeigt. Die Kritik an diesen Institutionen hat sich in den letzten Jahren verstärkt, insbesondere im Kontext wirtschaftlicher Krisen und wachsender sozialer Ungleichheit.
Die britische Monarchie steht exemplarisch für die Spannungen, die moderne Königshäuser durchleben. Die Krönung von König Charles III. im Mai 2023 löste eine Welle der Kritik aus. „Schon seit einiger Zeit regt sich heftige Kritik an den pompösen Krönungsplänen: zu groß, zu teuer, einfach unangebracht“, berichtet Lisa Felgendreff im IPG-Journal. Die geschätzten Kosten von rund 100 Millionen Pfund, vollständig vom Steuerzahler getragen, erschienen vielen als unangemessen „in Zeiten der Inflation in Großbritannien“ und angesichts der Tatsache, dass „immer mehr Menschen das nötige Geld für Heizkosten oder Lebensmittel fehlt und sie ihre Rechnungen nicht bezahlen können.“
Diese Kritik richtet sich nicht nur gegen die finanziellen Aspekte der Monarchie, sondern auch gegen die wahrgenommene Realitätsferne der königlichen Familie. „Der Luxus, den sich König Charles III. auf Kosten der britischen Bevölkerung gönnt, wirkt vollkommen aus der Zeit gefallen und erinnert an vergangene Jahrhunderte der Monarchie”, so Felgendreff. Charles’ Privatvermögen wird auf fast zwei Milliarden Pfund geschätzt, einschließlich „zahlreicher Ländereien, Luxusfahrzeuge, dutzender Rennpferde und einer Kunstsammlung mit Gemälden von Marc Chagall bis Salvador Dalí.“ Angesichts dieses enormen Reichtums erscheint die Finanzierung der Krönung durch Steuergelder vielen als besonders problematisch.
Die Kritik an modernen Monarchien beschränkt sich jedoch nicht auf wirtschaftliche Aspekte. Auch die politische Rolle der Monarchen steht in der Kritik. Obwohl die meisten modernen Monarchien konstitutionell oder parlamentarisch sind und die politische Macht bei gewählten Vertretern liegt, gibt es immer wieder Fälle, in denen Monarchen versuchen, politischen Einfluss auszuüben. Im Falle von Charles III. wird beispielsweise seine Einmischung in Gesundheitsfragen kritisiert: „Mit dem Ziel, der Alternativmedizin im chronisch unterfinanzierten britischen Gesundheitssystem National Health Service zum Durchbruch zu verhelfen, war er sich selbst für politische Einmischung nicht zu schade”, berichtet das IPG-Journal.
Besonders bemerkenswert ist der Generationenkonflikt in Bezug auf die Monarchie. Während ältere Generationen oft noch eine emotionale Bindung an die Krone haben, stehen jüngere Menschen der Institution zunehmend kritisch gegenüber. „Damit verliert die Monarchie vor allem die junge Generation. Die meisten unter 35-Jährigen sind sich nicht so sicher, wie wichtig ihnen die Beibehaltung der Monarchie in ihrem Land ist“, heißt es im IPG-Journal. Eine Umfrage ergab sogar, dass „in derselben Altersgruppe mehr als ein Drittel eine Republik bevorzugen würde.“
Diese Entwicklung beschränkt sich nicht auf Großbritannien. „In mehreren der 15 Länder, in denen Charles III. Staatsoberhaupt ist, wird über eine Loslösung von der britischen Krone diskutiert“, berichtet Felgendreff. Barbados hat diesen Schritt bereits 2021 vollzogen, und Länder wie Australien und Antigua und Barbuda könnten folgen.
Die Reaktion der Monarchie auf diese Kritik folgt einem bekannten Muster: „Charles’ Umgang mit Kritik am britischen Adel oder seiner eigenen Person läuft bisher eher nach dem bekannten Schema: ignorieren, lächeln und winken.“ Diese Strategie der Vermeidung und des Aussitzens könnte jedoch langfristig zum Problem werden, wenn die Unterstützung für die Monarchie weiter schwindet.
Die Kritik an modernen Monarchien spiegelt in vielerlei Hinsicht die Haltung des Kalfaterersmaats Hickey wider: Sie werden als „blutsaugende Schmarotzer“ betrachtet, die auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung leben. Doch gleichzeitig übt die monarchische Lebensweise eine ungebrochene Faszination aus, wie der anhaltende Medienrummel um königliche Hochzeiten, Krönungen und andere Ereignisse zeigt. Die Menschen kritisieren die Monarchie, träumen aber gleichzeitig davon, selbst so zu leben wie die Königsfamilie, ein modernes Echo von Hickeys Paradoxon.
IV. Neue Formen der Macht: Die modernen „Könige“
Während traditionelle Monarchien an Bedeutung verlieren, sind neue Formen der Macht entstanden, die in mancher Hinsicht noch einflussreicher sind als die Könige und Königinnen vergangener Zeiten. Die wirtschaftlichen Eliten unserer Zeit, Milliardäre, CEOs multinationaler Konzerne und Finanzmagnatenn, verfügen über Ressourcen und Einfluss, die denen historischer Monarchen in nichts nachstehen.
Die reichsten Menschen der Welt kontrollieren Vermögen, die das BIP ganzer Länder übersteigen. Sie besitzen nicht nur unvorstellbaren Reichtum, sondern auch die Macht, globale Märkte zu beeinflussen, politische Entscheidungen zu prägen und ganze Industriezweige zu transformieren. Elon Musk, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg und andere Tech-Milliardäre werden nicht ohne Grund als die “Könige” des digitalen Zeitalters bezeichnet. Sie herrschen über digitale Imperien, die Milliarden von Menschen umfassen und deren Einfluss weit über nationale Grenzen hinausreicht.
Diese neuen Machthaber sind in gewisser Weise sogar mächtiger als traditionelle Monarchen, da sie keiner formalen demokratischen Kontrolle unterliegen. Während ein konstitutioneller Monarch an eine Verfassung gebunden ist und ein gewähltes Parlament respektieren muss, können Tech-CEOs weitgehend autonom entscheiden, welche Inhalte auf ihren Plattformen erlaubt sind, welche Daten gesammelt werden und wie diese genutzt werden. Sie kontrollieren die digitale Infrastruktur, die unser tägliches Leben bestimmt, von der Kommunikation über den Handel bis hin zur Informationsbeschaffung.
Die Parallelen zur traditionellen Monarchie sind frappierend: Wie Könige von Gottes Gnaden beanspruchen diese Tech-Monarchen eine Art natürliches Recht auf ihre Position, basierend auf ihrer vermeintlichen Genialität und Vision. Sie umgeben sich mit loyalen Höflingen in Form von Vorständen und Beratern, die selten wirklichen Widerspruch wagen. Und wie traditionelle Monarchen neigen sie dazu, ihre Macht zu vererben, sei es durch familiäre Nachfolge oder durch die Schaffung von Stiftungen und anderen Strukturen, die ihren Einfluss über ihren Tod hinaus sichern.
Besonders interessant ist die Ambivalenz, mit der viele Menschen diesen neuen Machthabern begegnen. Einerseits gibt es scharfe Kritik an ihrer Steuervermeidung, ihren Arbeitspraktiken und ihrer Marktmacht. Andererseits werden sie oft als Visionäre und Genies verehrt, deren Lebensstil und Erfolg Bewunderung und Neid hervorrufen. Diese Ambivalenz erinnert stark an Hickeys Paradoxon: Wir kritisieren die Macht der Tech-Milliardäre, während wir gleichzeitig davon träumen, selbst so erfolgreich und einflussreich zu sein.
Auch im politischen Bereich sind neue Formen der Macht entstanden, insbesondere in Form populistischer Bewegungen und Führungspersönlichkeiten. Populisten positionieren sich typischerweise als Gegner der „Eliten“ und als Vertreter des„wahren Volkes “. Sie kritisieren bestehende Machtstrukturen scharf und versprechen, die Macht an das Volk zurückzugeben. Doch sobald sie an der Macht sind, zeigen viele populistische Führer autoritäre Tendenzen und konzentrieren Macht in ihren eigenen Händen, ein klassisches Beispiel für Hickeys Paradoxon.
Diese populistischen Bewegungen nutzen oft die Unzufriedenheit mit bestehenden Eliten, um ihre eigene Machtbasis zu stärken. Sie präsentieren sich als Anti-Establishment-Kräfte, während sie gleichzeitig neue Machtstrukturen aufbauen, die oft weniger transparent und demokratisch sind als die, die sie ersetzen. Die Rhetorik der Volksnähe und des Kampfes gegen korrupte Eliten dient dabei als Deckmantel für den eigenen Machtanspruch, genau wie Hickeys Hass auf Könige letztlich seinem eigenen Wunsch nach Macht entsprang.
Die sozialen Medien haben diese Dynamik noch verstärkt, indem sie jedem Einzelnen die Möglichkeit geben, eine Stimme zu erheben und Kritik zu üben. Doch gleichzeitig haben sie neue Formen der Machtkonzentration geschaffen. Influencer und Content-Creator können Millionen von Followern beeinflussen und verfügen über eine Reichweite, von der traditionelle Medien nur träumen können. Sie kritisieren oft bestehende Machtstrukturen, während sie selbst zu neuen Meinungsmachern werden, die erheblichen Einfluss auf öffentliche Debatten und Konsumentscheidungen haben.
In all diesen Bereichen, Wirtschaft, Politik und Medien, zeigt sich das gleiche Muster: Die Kritik an bestehenden Machtstrukturen geht Hand in Hand mit dem Aufbau neuer Formen der Macht. Die „blutsaugenden Schmarotzer“, gegen die Hickey wetterte, haben neue Gesichter bekommen, aber das grundlegende Paradoxon bleibt bestehen: Wir kritisieren Macht, während wir gleichzeitig danach streben, selbst mächtig zu sein.
V. Das psychologische Paradoxon der Macht
Um das Paradoxon des Cornelius Hickey wirklich zu verstehen, müssen wir uns mit der Psychologie der Macht auseinandersetzen. Was treibt Menschen dazu, Macht gleichzeitig zu kritisieren und zu begehren? Warum verfallen selbst diejenigen, die Machtmissbrauch anprangern, oft denselben Mustern, wenn sie selbst an die Macht gelangen?
Friedrich Nietzsche erkannte im „Willen zur Macht“ einen fundamentalen menschlichen Antrieb. Für Nietzsche ist das Streben nach Macht nicht nur ein politisches oder soziales Phänomen, sondern ein grundlegender Aspekt des menschlichen Daseins. Jeder Mensch strebt danach, seine Umgebung zu kontrollieren und seinen Einfluss zu erweitern. Dieses Streben kann konstruktive Formen annehmen, etwa in künstlerischer Schöpfung oder wissenschaftlicher Entdeckung, aber auch destruktive, wenn es zur Unterdrückung anderer führt.
Aus psychologischer Sicht lässt sich dieses Phänomen teilweise durch kognitive Dissonanz erklären. Menschen neigen dazu, ihre eigenen Motive in einem positiven Licht zu sehen, während sie ähnliche Motive bei anderen kritisch betrachten. Wenn Hickey die Monarchen als „blutsaugenden Schmarotzer“ bezeichnet, sieht er sich selbst nicht als potentiellen Schmarotzer, sondern als gerechten Kritiker eines korrupten Systems. Wenn er später feststellt, dass es ihm „…durchaus behagte, selbst König zu sein“, rationalisiert er diesen Widerspruch vermutlich, indem er sich einredet, dass er die Macht besser und gerechter ausüben würde als seine Vorgänger.
Diese Selbsttäuschung ist ein universelles Phänomen. Revolutionäre glauben aufrichtig, dass sie für Gerechtigkeit kämpfen, auch wenn sie nach der Machtübernahme ähnliche Unterdrückungsmechanismen etablieren wie jene, die sie gestürzt haben. Populisten sind überzeugt, dass sie im Namen des Volkes sprechen, auch wenn sie demokratische Institutionen schwächen. Tech-Milliardäre sehen sich als Innovatoren und Weltverbesserer, auch wenn ihre Unternehmen problematische Arbeitsbedingungen schaffen oder Steuern vermeiden.
Der Psychologe Philip Zimbardo zeigte mit seinem berühmten Stanford-Gefängnis-Experiment, wie schnell normale Menschen in Machtpositionen zu autoritärem und missbräuchlichem Verhalten neigen können. Die Teilnehmer, die zufällig die Rolle von Wärtern zugewiesen bekamen, entwickelten innerhalb kürzester Zeit sadistische Tendenzen gegenüber den „Gefangenen“, obwohl alle Beteiligten wussten, dass es sich um ein Experiment handelte. Dieses Experiment verdeutlicht, wie stark die Situation und die Rolle, die wir einnehmen, unser Verhalten beeinflussen können.
Hannah Arendt prägte den Begriff der „Banalität des Bösen“, um zu beschreiben, wie normale Menschen unter bestimmten Umständen zu Tätern werden können. Ihre Analyse des NS-Funktionärs Adolf Eichmann zeigte, dass nicht Monster oder Sadisten die größte Gefahr darstellen, sondern gewöhnliche Menschen, die in einem System funktionieren und ihre moralische Verantwortung an dieses System delegieren.
Auf Hickey übertragen bedeutet dies: Seine Verwandlung vom Kritiker der Monarchie zum begeisterten Möchtegern-König ist kein Zeichen besonderer moralischer Schwäche, sondern ein Beispiel für eine allgemein menschliche Tendenz. Die meisten Menschen, die in seine Position kämen, würden vermutlich ähnlich reagieren. Die Macht verändert den Menschen, und oft merkt er selbst nicht, wie sehr er sich verändert hat.
Diese psychologische Dynamik erklärt auch, warum Machtkritik oft oberflächlich bleibt. Wir kritisieren nicht die Machtstrukturen an sich, sondern nur die Tatsache, dass andere und nicht wir selbst die Macht innehaben. Hickey hasst nicht die Institution des Königtums, sondern die Tatsache, dass andere Könige sind und er nicht. Seine Kritik ist nicht prinzipiell, sondern situativ, und daher anfällig für Umkehrung, sobald sich seine eigene Situation ändert.
Die wahre Herausforderung besteht darin, diese psychologischen Mechanismen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Dies erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion und die Bereitschaft, die eigenen Motive kritisch zu hinterfragen. Es bedeutet, sich einzugestehen, dass auch in uns ein Hickey steckt, ein Teil, der Macht kritisiert und gleichzeitig begehrt. Nur durch diese Erkenntnis können wir hoffen, den Kreislauf zu durchbrechen, in dem Machtkritiker zu Machthabern werden, die dann selbst kritisiert werden.
VI. Zeitgeistkritik: Die Heuchelei moderner Machtdiskurse
In unserer heutigen Zeit hat das Paradoxon des Cornelius Hickey besondere Relevanz erlangt. Die gegenwärtigen Diskurse über Macht sind geprägt von einer tiefgreifenden Ambivalenz und oft auch von Heuchelei. Wir leben in einer Epoche, in der Machtkritik allgegenwärtig ist, während gleichzeitig neue Formen der Machtausübung entstehen und gedeihen.
Ein besonders prägnantes Beispiel für diese Dynamik ist das Phänomen der „Cancel Culture“. Ursprünglich als Instrument konzipiert, um Machtmissbrauch anzuprangern und marginalisierte Stimmen zu stärken, hat sie in manchen Fällen selbst autoritäre Züge angenommen. Die Macht, jemanden zu „canceln‟, also sozial zu ächten und aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen, wird oft von denselben Personen ausgeübt, die sich gegen Unterdrückung und für Meinungsfreiheit einsetzen. Hier zeigt sich Hickeys Paradoxon in reinster Form: Die Kritik an bestehenden Machtstrukturen führt zur Etablierung neuer Formen der Macht, die ähnlich problematisch sein können.
Die sozialen Medien haben diese Dynamik noch verstärkt. Sie wurden einst als demokratisierende Kraft gefeiert, die jedem eine Stimme geben und traditionelle Gatekeeper umgehen würde. Doch inzwischen sind sie selbst zu mächtigen Gatekeepern geworden. Die Algorithmen von Facebook, Twitter und anderen Plattformen entscheiden, welche Inhalte Sichtbarkeit erlangen und welche im digitalen Niemandsland verschwinden. Die Tech-Unternehmen, die diese Plattformen betreiben, verfügen über enorme Macht, die kaum demokratischer Kontrolle unterliegt.
Gleichzeitig inszenieren sich viele Nutzer sozialer Medien als machtlose Opfer eines ungerechten Systems, während sie selbst aktiv an der Formung dieses Systems mitwirken. Sie kritisieren die „Mainstream-Medien‟ für ihre angebliche Voreingenommenheit, während sie selbst in Echokammern leben, die ihre eigenen Vorurteile bestätigen. Sie prangern die Macht der Eliten an, während sie selbst nach Einfluss und Followern streben. Hickey würde sich in dieser Welt zweifellos wiedererkennen.
Auch im politischen Diskurs zeigt sich diese Heuchelei. Populistische Bewegungen von links und rechts kritisieren die „Eliten‟ und versprechen, die Macht an das „Volk‟ zurückzugeben. Doch sobald sie an der Macht sind, zeigen viele politische Führer autoritäre Tendenzen und konzentrieren Macht in ihren eigenen Händen. Sie kritisieren die „Lügenpresse‟, während sie selbst Desinformation verbreiten. Sie beklagen die Korruption des Establishments, während sie eigene Korruptionsnetzwerke aufbauen.
Diese Heuchelei beschränkt sich nicht auf bestimmte politische Lager. Sie findet sich überall dort, wo Menschen vorgeben, gegen Machtmissbrauch zu kämpfen, während sie selbst nach Macht streben. Sie zeigt sich in Unternehmen, die sich als progressive Kraft inszenieren, während sie Steuern vermeiden und prekäre Arbeitsbedingungen schaffen. Sie zeigt sich in NGOs, die vorgeben, für die Schwachen einzutreten, während sie selbst intransparente Machtstrukturen aufbauen. Sie zeigt sich in Medien, die Objektivität versprechen, während sie bestimmte Narrative fördern.
Der Zeitgeist unserer Epoche ist geprägt von dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen der Kritik an Macht und dem eigenen Machtstreben. Wir leben in einer Zeit, in der jeder vorgibt, auf der Seite der Unterdrückten zu stehen, während er selbst nach Dominanz strebt. Wir sind alle ein bisschen wie Cornelius Hickey, wir hassen Könige, bis wir die Chance bekommen, selbst König zu sein.
Diese Heuchelei wird noch verstärkt durch die zunehmende Polarisierung unserer Gesellschaft. In einer polarisierten Welt wird Machtkritik oft selektiv: Wir kritisieren die Macht der anderen Seite, während wir die Machtkonzentration auf unserer eigenen Seite rechtfertigen oder ignorieren. Wir sehen den Splitter im Auge des anderen, aber nicht den Balken im eigenen Auge. Diese selektive Wahrnehmung ermöglicht es uns, unsere eigenen Machtansprüche zu legitimieren, während wir die der anderen delegitimieren.
Die wahre Zeitgeistkritik besteht darin, diese Heuchelei zu erkennen und zu benennen. Es geht nicht darum, Machtkritik per se zu diskreditieren, Kritik an Machtmissbrauch ist notwendig und wichtig. Es geht vielmehr darum, die eigenen Motive zu hinterfragen und sich einzugestehen, dass auch in uns ein Hickey steckt. Nur durch diese Selbstreflexion können wir hoffen, den ewigen Kreislauf zu durchbrechen, in dem die Kritiker von heute die Machthaber von morgen werden, die dann selbst kritisiert werden.
VII. Der ewige Kreislauf von Machtkritik und Machtstreben
Das Paradoxon des Cornelius Hickey, der Hass auf Könige bei gleichzeitiger Freude daran, selbst König zu sein, ist kein isoliertes Phänomen, sondern ein grundlegendes Muster menschlichen Verhaltens. Es zieht sich durch die Geschichte, manifestiert sich in verschiedenen kulturellen und politischen Kontexten und prägt auch unsere gegenwärtige Gesellschaft.
Die Analyse dieses Paradoxons führt zu einer ernüchternden Erkenntnis: Der Kreislauf von Machtkritik und Machtstreben scheint unausweichlich zu sein. Immer wieder erheben sich Menschen gegen bestehende Machtstrukturen, nur um nach erfolgreicher Revolution selbst zu Machthabern zu werden, die ähnliche Unterdrückungsmechanismen etablieren. Die Französische Revolution führte zu Robespierres Terrorherrschaft und schließlich zu Napoleons Kaisertum. Die Russische Revolution brachte Stalin hervor. Antikoloniale Befreiungsbewegungen mündeten oft in Diktaturen. Und auch in unserer Zeit sehen wir, wie Bewegungen, die angetreten sind, um Macht zu kritisieren und zu demokratisieren, selbst autoritäre Züge entwickeln können.
Dieser Kreislauf wird durch psychologische Mechanismen wie kognitive Dissonanz und Selbsttäuschung aufrechterhalten. Menschen neigen dazu, ihre eigenen Motive in einem positiven Licht zu sehen, während sie ähnliche Motive bei anderen kritisch betrachten. Sie rationalisieren Widersprüche in ihrem eigenen Verhalten und übersehen die Parallelen zwischen ihrer eigenen Machtausübung und jener, die sie kritisieren.
Doch die Erkenntnis dieses Musters bedeutet nicht, dass wir zur Resignation verdammt sind. Im Gegenteil: Das Bewusstsein für die Hickey’sche Ambivalenz in uns selbst kann der erste Schritt zur Überwindung dieses Kreislaufs sein. Indem wir unsere eigenen Machtansprüche kritisch hinterfragen und uns unserer Anfälligkeit für Machtmissbrauch bewusst werden, können wir beginnen, anders zu handeln.
Dies erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion und die Bereitschaft, die eigenen blinden Flecken zu erkennen. Es bedeutet, sich einzugestehen, dass auch in uns ein Hickey steckt, ein Teil, der Macht kritisiert und gleichzeitig begehrt. Es bedeutet, die eigene Kritik an Machtstrukturen daraufhin zu prüfen, ob sie wirklich prinzipiell ist oder nur situativ, ob wir wirklich gegen Machtmissbrauch an sich sind oder nur dagegen, dass andere und nicht wir selbst die Macht innehaben.
Eine Gesellschaft, die diesen Kreislauf durchbrechen will, braucht institutionelle Mechanismen der Machtkontrolle, Gewaltenteilung, unabhängige Justiz, freie Presse, starke Zivilgesellschaft. Aber sie braucht auch eine Kultur der Selbstreflexion und der kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Machtansprüchen. Sie braucht Menschen, die bereit sind, ihre eigene Hickey’sche Ambivalenz zu erkennen und zu überwinden.
Der Satz über Cornelius Hickey enthält somit eine tiefe Wahrheit über die menschliche Natur und unsere Beziehung zur Macht. Er erinnert uns daran, dass die größte Gefahr nicht von offensichtlichen Tyrannen ausgeht, sondern von denen, die vorgeben, gegen Tyrannei zu kämpfen, während sie selbst nach absoluter Macht streben. Er mahnt uns zur Wachsamkeit, nicht nur gegenüber anderen, sondern vor allem gegenüber uns selbst.
In einer Zeit, in der Machtkritik allgegenwärtig ist, während gleichzeitig neue Formen der Machtkonzentration entstehen, ist diese Mahnung aktueller denn je. Wir alle sollten uns fragen: Sind wir wirklich so anders als Cornelius Hickey? Oder würden auch wir feststellen, dass es uns „durchaus behagte, selbst König zu sein“?
Die Antwort auf diese Frage könnte der Schlüssel zu einer gerechteren und freieren Gesellschaft sein, einer Gesellschaft, die den ewigen Kreislauf von Machtkritik und Machtmissbrauch endlich durchbricht.
Quellen:
- “Sind Monarchien noch zeitgemäß?” treffpunkteuropa.de, 14. Februar 2024, https://www.treffpunkteuropa.de/sind-monarchien-noch-zeitgemass
- Felgendreff, Lisa. “Lächeln und Winken.” IPG-Journal, 02. Mai 2023, https://www.ipg-journal.de/rubriken/demokratie-und-gesellschaft/artikel/laecheln-und-winken-6676/
- Orwell, George. “Farm der Tiere.” 1945.
- Nietzsche, Friedrich. “Der Wille zur Macht.” Nachlass.
- Arendt, Hannah. “Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen.” 1963.
- Zimbardo, Philip. “Das Stanford-Gefängnis-Experiment: Eine Simulationsstudie über die Psychologie der Gefangenschaft.” 1971.