Bemerkungen über das Shitbürgertum (Ulf Poschardt) als Spätphänomen unserer Zeit
Die Gleichheit im Anderssein
Alle wollen anders sein und sind damit, wie durch eine ironische Volte der Geschichte, gleich wie nie. Individualität ist zur Konvention geworden, Distinktion zum kollektiven Reflex. Inmitten dieser paradoxen Selbstinszenierung erscheint eine soziale Formation, die sich durch besonders fein austarierte Abweichung von der Masse definiert und dabei deren weichgezeichnetes Spiegelbild bleibt. Ulf Poschardt nennt sie das Shitbürgertum.
Diese urbane, gebildete, progressiv gestimmte Mittelschicht glaubt, am Rande der Verhältnisse zu stehen und thront doch, lattebewaffnet, moralisch satt und ästhetisch überlegt, fest im Zentrum des kulturellen Betriebs. Ihr Selbstbild: kritisch, engagiert, bewusst. Ihre Wirkung: stabilisierend, sedierend, auf eine besonders charmante Art systemkonform.
Die Ästhetik des Andersseins
Das Shitbürgertum versteht sich als Gegenentwurf zur gedankenlosen Mitte, dabei ist es ihr Update. Man konsumiert nachhaltig, denkt dialektisch, lebt klimabewusst, fliegt mit schlechtem Gewissen und entschuldigt sich dafür auf Social Media. Alles ist Zeichen: der lokal geröstete Kaffee, das recycelte Leinenhemd, das Klimaguthaben des SUVs. Politik wird zur Geschmacksfrage, Haltung zur Stilistik.
Diese Inszenierung der Andersartigkeit ersetzt das Politische durch das Performative. Was zählt, ist nicht Wirkung, sondern Signifikanz. Wer das Richtige denkt, lebt und spricht, kann sich als moralisch überlegen begreifen, ohne strukturell etwas verändern zu müssen. Die Weltverbesserung wird zur ästhetischen Praxis. Rebellion? Ja, aber bitte formvollendet.
Die neue Klasse der Geschmacksmoralisten
In diesem Milieu manifestiert sich eine neue Form sozialer Schichtung: weniger durch Besitz als durch kulturelles Kapital. Wer die richtigen Bücher liest, die korrekten Begriffe kennt und die feinen Unterschiede in Sojamilchsorten beherrscht, gehört dazu. Das Shitbürgertum grenzt sich nicht durch Arroganz ab, sondern durch Feinfühligkeit. Aber auch das ist Exklusion, nur höflicher.
Gleichzeitig ersetzt Übermoral den Streit. Diskurse werden vor allem geführt, um zu zeigen, dass man sie führen kann. Das Ringen um Wahrheit wird durch das Bedürfnis nach Zustimmung ersetzt. Die politische Öffentlichkeit verwandelt sich in ein gut kuratiertes Wohnzimmer, in dem man sich wechselseitig seiner zivilisierten Haltung vergewissert, ein Gleichklang der Guten.
Der Nachwuchs: Postironischer Aktivismus
Die nächste Generation dieses Milieus geht einen Schritt weiter: Sie betreibt postironischen Aktivismus. Ernst ist sie, aber nur im Wechselspiel mit ironischer Selbstrelativierung. Man demonstriert gegen den Kapitalismus in Performancewear, verfasst wütende Threads gegen die Globalisierung aus dem Coworking-Space in Lissabon, deklamiert Dekolonisierung und bucht dann das Retreat in Marrakesch.
Diese Form des Aktivismus ist nicht leer, aber ermüdet. Sie weiß zu viel über sich selbst, um noch radikal zu sein. Engagement ist möglich, solange es in die eigene Ästhetik passt. Der Kampf um Gerechtigkeit wird zwischen Urban Gardening und Awareness-Kampagnen ausgetragen; wirkungsvoll vor allem auf Instagram. Man meint es ernst, aber nicht wörtlich.
Gesellschaftliche Implikationen: Die Eleganz des Stillstands
Gesellschaftlich betrachtet wirkt das Shitbürgertum wie ein Placebo mit feinem Nachgeschmack: Es vermittelt das Gefühl von Wandel, ohne ihn zu verlangen. Es sorgt für Ruhe, wo Unruhe nötig wäre, und bietet moralische Selbstversicherung im Angesicht einer Welt, die sich immer weniger steuern lässt. Es ist das ästhetisch moralische Rückgrat einer spätmodernen Gesellschaft, die mehr Angst vor Kontrollverlust hat als vor dem Status quo.
Dabei ist sein größter Einfluss die Sanftheit der Verhinderung: Die Fähigkeit, radikale Forderungen in kulturelle Accessoires zu verwandeln. Was nach Umbruch aussieht, ist oft nur Re-Design. Was wie Protest klingt, ist oft bloß Stilpflege. Das Politische wird nicht unterdrückt, es wird aufgeladen, veredelt, inszeniert. Und damit entschärft.
Ausblick: Vom Zuviel des Richtigen
Was kommt nach dem Shitbürgertum? Vermutlich: eine neue Iteration desselben. Der moralisch gestimmte Habitus wird sich weiterentwickeln, feiner, digitaler, klimaneutraler, aber nicht prinzipiell anders. Man wird neue Diskurse führen, neue Haltungen erproben, neue Symbole etablieren. Die Struktur jedoch, das beruhigende Spiel aus Engagement und Entlastung, bleibt stabil.
Der gesellschaftliche Fortschritt, den dieses Milieu symbolisiert, ist real, aber er bleibt unterhalb der Bruchkante. Er ist eine Bewegung im Rahmen, keine darüber hinaus. Eine gute Gesellschaft, gewiss. Aber keine mutige.
Fazit: Die kuratierte Welt
Das Shitbürgertum ist kein Skandal. Es ist ein Symptom. Es zeigt uns, wie aus Emanzipation Etikette wird, wie aus Aufklärung Habitus wird, wie aus Kritik Konsum wird. Es ist die freundliche Maske der Saturiertheit, klug, achtsam, selbstreflexiv. Und genau darin liegt seine Tragik.
Denn die Welt wird nicht untergehen.
Sie wird kuratiert.