Im Innern des Kosmos

Gedanken zur philosophischen Tragweite der Black-Hole-Universe-Theorie

„Das Erhabene ist nicht das Ferne, sondern das Unsichtbare im Nächsten.“ — Friedrich Hölderlin

Wenn die Theorie des Kosmologen Enrique Gaztañaga recht behält, leben wir nicht in einem neutralen, weiten Universum, das sich aus einem plötzlichen Urknall heraus entfaltet hat, sondern in einer kühnen Rekonstruktion: Unser Kosmos ist das Innere eines Schwarzen Lochs, entstanden aus dem Kollaps eines gigantischen Vorläuferuniversums. Diese Idee ist mehr als eine neue physikalische Hypothese. Sie ist eine Herausforderung an unser Selbstverständnis, eine Revision unseres metaphysischen Horizonts. Und sie verlangt nach einer philosophischen Einordnung.

Ursprung ohne Anfang: Der Kollaps als Genesis

Die klassische Kosmologie beginnt mit dem Nichts. Der Urknall erscheint als metaphysischer Nullpunkt, jenseits dessen keine physikalische Sprache mehr Geltung besitzt. Die Black-Hole-Universe-Theorie hingegen postuliert einen Ursprung im Innerweltlichen: Unser Universum entsteht aus einem vorangegangenen Kollaps. Die Geburt ist kein Anfang, sondern ein Übergang.

Damit rückt das Weltbild weg von der „creatio ex nihilo“ hin zur kausalen Selbstbeziehung der Welt. Die Idee erinnert an zyklische Modelle aus der indischen Philosophie, an Hegels dialektischen Umschlag, an Nietzsches „Ewige Wiederkunft des Gleichen“. Der Kollaps gebiert das Neue, nicht das Nichts. Genesis wird zur Dialektik.

Erkenntnis im Inneren: Kosmologie als Transzendentalphilosophie

Der vielleicht radikalste Gedanke dieser Theorie ist nicht der Ursprung, sondern unser Ort: Wir befinden uns innerhalb des Ereignishorizonts eines Schwarzen Lochs. Das heißt: Es gibt eine Grenze, die prinzipiell unüberwindlich ist. Wir leben in einem Innen, das kein Außen mehr kennt.

Das erinnert an Immanuel Kant. Nicht die Welt an sich, sondern nur die Welt, wie sie uns erscheint, ist erkennbar. Erkenntnis ist immer perspektivisch, immer relativ zum Beobachter. Die Theorie Gaztañagas bringt dieses Prinzip auf die große Leinwand: Die physikalische Struktur des Universums ist nicht absolut, sondern bedingt durch die Tatsache, dass wir selbst Teil seines Inneren sind.

Zyklus statt Ziel: Zeit im kosmischen Atem

Wenn Universen aus dem Kollaps anderer Universen entstehen, dann ist unser Kosmos nicht der erste, vielleicht auch nicht der letzte. Die Zeit ist nicht linear, sondern zirkulär, nicht zielgerichtet, sondern rhythmisch. In dieser Sichtweise liegt eine ästhetische Tröstung, aber auch ein metaphysischer Ernst: Die Welt ist nicht einmalig, sondern Ausdruck eines Musters.

Die Philosophie der Antike, vor allem die Stoa, dachte die Welt in großen kosmischen Epochen, unterbrochen von Weltbränden. Die moderne Physik, lange auf das lineare Zeitmodell fixiert, kehrt in dieser Theorie zu einem intuitiveren Verständnis von Dauer und Wiederkehr zurück.

Das Ethos des Begrenzten: Demut im Angesicht der Grenze

Was bedeutet es, in einem Raum zu leben, dessen Grenze uns für immer verborgen bleibt? Es bedeutet, dass wir Demut lernen müssen. Kosmologie war oft ein Projekt intellektueller Hybris: das Universum als Ganzes verstehen zu wollen. Die Black-Hole-Universe-Theorie aber ruft zur Mäßigung auf. Sie sagt: Erkenntnis ist möglich, aber stets partiell. Wir sind eingeschlossen, nicht allwissend.

In dieser Einsicht liegt ein ethischer Impuls. Wenn es kein „Draußen“ gibt, dann wird das „Hier“ bedeutungsvoll. Wir müssen Verantwortung für diese Welt übernehmen, weil es keine andere gibt.

Kosmos als Gedächtnis: Struktur als Spur

Gaztañagas Theorie postuliert, dass die große Struktur unseres Universums – Galaxienhaufen, Fluktuationen, Raumzeitkrümmungen – Erinnerungen an einen früheren kosmischen Zustand sind. Der Kosmos ist ein Palimpsest. In ihm sind Spuren gespeichert, Überbleibsel eines „Davor“, das nicht verschwunden, sondern transformiert ist.

Diese Vorstellung macht aus der Physik eine Form der Archäologie. Wir graben nicht nur nach Teilchen, sondern nach Bedeutungsschichten, nach der sedimentierten Geschichte eines Vorwelt-Zustands. Die Welt ist nicht nur Raum, sondern auch Gedächtnis.

Epilog: Die Welt als Innen

Was bedeutet es für uns, wenn wir in einem Schwarzen Loch leben? Es bedeutet, dass der Kosmos kein offener Horizont ist, sondern ein innerer Raum. Kein Objekt da draußen, sondern ein Medium, das uns formt. Wir sind nicht Beobachter einer Welt, sondern Teilnehmer in einem kosmischen Prozess von Werden und Vergehen.

Und vielleicht liegt genau darin eine neue Form der Transzendenz: Nicht jenseits der Welt, sondern in ihrer Tiefe, in ihrer Geschichte, in ihrem Rhythmus.

Der Himmel über uns ist keine Fluchtlinie. Er ist ein Spiegel.

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