„Gott, Sprechstunde nur nach Vereinbarung“

Über die Verschlossenheit sakraler Räume im Berliner Umland

In einer Zeit, in der die Sehnsucht nach Stille, Kontemplation und spiritueller Einkehr wächst, erscheint es paradox, dass viele Kirchen im Berliner Umland ihre Türen für Besucher geschlossen halten. Etwas pointierter formuliert: „Gott muss draußen bleiben“. Diese Aussage gewinnt in diesem Kontext eine doppelte Bedeutung: Sie verweist nicht nur auf die physische Unzugänglichkeit sakraler Räume, sondern auch auf die symbolische Abwesenheit des Göttlichen im öffentlichen Leben. Dieser Artikel beleuchtet die Gründe für die eingeschränkte Zugänglichkeit von Kirchen, die Auswirkungen auf die Gesellschaft und mögliche Wege, um die Kirchen wieder zu offenen Orten der Begegnung zu machen.

Die aktuelle Situation

Viele Kirchen im Berliner Umland sind nur zu bestimmten Zeiten oder nach vorheriger Anmeldung für Besucher geöffnet. Beispielsweise ist die Dorfkirche Diedersdorf in den Sommermonaten lediglich an Wochenenden und Feiertagen zwischen 14:00 und 18:00 Uhr zugänglich. Andere, wie die Dorfkirchen in Glasow und Mahlow, stehen nur nach vorheriger Anmeldung offen. Die Marienkirche Strausberg wiederum kann zwar besichtigt werden, jedoch empfiehlt sich auch dort eine vorherige Kontaktaufnahme. Damit stehen viele sakrale Räume jenen nicht offen, die spontan einen Ort der Stille oder des Gebets aufsuchen möchten.

Gründe für die Verschlossenheit

Die Ursachen für die Verschlossenheit der Kirchen sind vielfältig: Der Personalmangel ist ein zentrales Problem. Viele Gemeinden verfügen nicht über genügend ehrenamtliche oder hauptamtliche Kräfte, um eine dauerhafte Öffnung zu gewährleisten. Hinzu kommt die Sorge vor Vandalismus, Diebstahl oder Beschädigungen an oft denkmalgeschützten Kunstwerken. Auch die Heiz- und Instandhaltungskosten in alten Gemäuern sind hoch, eine täglich geöffnete Kirche verursacht laufende Kosten, die kaum zu decken sind. Zudem spielt die veränderte Rolle der Kirche in der Gesellschaft eine Rolle: Während kirchliche Gebäude früher zentrale Treffpunkte der Gemeinschaft waren, ist ihre gesellschaftliche Relevanz heute in Teilen geschwunden.

Ein historischer Rückblick: Kirchen als offene Häuser

Die Vorstellung, dass eine Kirche verschlossen sein könnte, ist historisch betrachtet ungewöhnlich. Über Jahrhunderte waren Kirchen offene Häuser, Orte, an denen Menschen nicht nur beteten, sondern auch Zuflucht fanden. Die mittelalterliche Kirche war nicht nur religiöser Mittelpunkt, sondern auch sozialer Anker, Versammlungsort, Archiv, Pilgerherberge und Schutzraum. Selbst in Zeiten der Pest und des Krieges standen viele Kirchen offen. In der Reformation wurde das Kirchengebäude bewusst als Versammlungsraum für das Volk betont, nicht nur für Gottesdienste, sondern für Bildung, Diskussion, geistliche Musik. Diese Tradition scheint heute zunehmend in Vergessenheit zu geraten.

Die spirituelle Dimension des offenen Raumes

Eine Kirche ist mehr als nur ein Gebäude, sie ist ein symbolisch aufgeladener Ort. Ihre Architektur richtet den Blick nach oben, lässt durch Stille und Licht eine besondere Atmosphäre entstehen, die Menschen berührt, unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund. Geschlossene Türen brechen diese Erfahrung im Wortsinn ab. Für viele ist die offene Kirche ein stilles Gegengewicht zur rastlosen Gegenwart, eine Insel im Strom der Zeit. Spirituelle Suchbewegungen, die heute nicht selten außerhalb institutioneller Religion verlaufen, finden in offenen Kirchen oft überraschende Resonanzräume.

Gesellschaftliche Auswirkungen verschlossener Kirchen

Wenn Kirchen unzugänglich bleiben, geht ein Stück öffentlicher Raum verloren, sowohl im physischen als auch im kulturellen Sinn. Kirchen sind identitätsstiftende Bauwerke, Träger kulturellen Erbes, Räume der Erinnerung. Ihre Schließung verengt den öffentlichen Diskurs um Religion, Geschichte und Ethik. Gleichzeitig schwinden Möglichkeiten zur niederschwelligen Begegnung mit dem Christentum. In säkularisierten Gesellschaften wirken geschlossene Kirchen wie ein sich selbst erfüllendes Prophezeiungsszenario: Die Kirche zieht sich zurück, wird unsichtbar, und verliert dadurch weiter an Relevanz.

Erfolgreiche Öffnungskonzepte: Beispiele aus anderen Regionen

Dass es auch anders geht, zeigen zahlreiche Gemeinden im In- und Ausland. In Süddeutschland etwa wurden sogenannte „verlässlich geöffneten Kirchen“ etabliert: mit klar kommunizierten Zeiten, Aufsichtskonzepten und Kooperationen mit Tourismusverbänden. Auch in den Niederlanden gibt es Initiativen wie „Kerk open“, bei denen Kirchen täglich für mehrere Stunden zugänglich sind, oft mit einer Mischung aus Aufsicht, Videoüberwachung und ehrenamtlichem Engagement. In Schweden wiederum gehört es vielerorts zum Standard, dass Kirchen tagsüber geöffnet sind. Der Schlüssel liegt meist in einer klugen Kombination aus Technik, Vertrauen und Beteiligung der Zivilgesellschaft.

Vision: Kirche als Dritter Ort

In der Soziologie spricht man vom „Dritten Ort“, jenen Räumen, die nicht dem privaten (Ersten Ort) oder dem beruflichen (Zweiten Ort) Bereich zuzurechnen sind, sondern dem sozialen, öffentlichen Zwischenraum. Kirchen könnten solche Dritten Orte sein: offen, niedrigschwellig, inspirierend. Sie müssen dazu nicht entkernt oder profaniert werden. Im Gegenteil: Gerade die Sakralität, die Geschichte, die besondere Ästhetik machen sie einzigartig. Eine offene Kirche kann Leseraum sein, Konzertsaal, Stille-Ort, Gebetsraum, Ausstellungsort, alles gleichzeitig, ohne ihre Identität zu verlieren. Aber dazu muss sie offen sein, im doppelten Wortsinn.

Persönliche Reflexion: Die Kraft des leeren Raumes

Ich erinnere mich an eine Reise nach Sachsen-Anhalt, an ein kleines Dorf mit einer romanischen Feldsteinkirche. Es war ein heißer Sommertag. Ich hatte nicht viel erwartet, und fand die Tür offen. Drinnen war es kühl und still. Nur das Licht durch die bunten Glasfenster bewegte sich langsam über die Bänke. Niemand war da. Kein Gottesdienst, kein Schild, keine Kamera. Nur Raum, Geschichte, Gegenwart. Ich blieb lange, betete nicht, sprach nicht. Und doch war da etwas. Vielleicht das, was man Gott nennt. Was ich dort empfand, war eine tiefe Form von Freiheit, weil der Ort sich mir anbot, nicht aufdrängte. Eine Kirche, die offen ist, sagt: Du darfst da sein. Du bist gemeint. Auch ohne Anmeldung, auch ohne Dogma.

Fazit

Die Aussage „Gott muss draußen bleiben“ ist ein Weckruf, und zugleich ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen. Kirchen, die verschlossen bleiben, verschließen sich nicht nur vor Vandalismus, sondern auch vor den Menschen. Wer will, dass das Christentum im Alltag präsent bleibt, muss dafür sorgen, dass seine Räume erreichbar sind, auch räumlich. Dazu braucht es Mut, Vertrauen, Strukturen und nicht zuletzt den Glauben daran, dass offene Türen mehr bringen als sie kosten. Nur so wird die Kirche wieder zu dem, was sie sein kann: ein Ort für alle, nicht nur für Sonntage. Ein Raum, in dem Gott nicht draußen bleiben muss, weil Menschen hereinkommen dürfen.

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