Eine Meditation über Kultur, Menschsein und Möglichkeit
Wie viele sind es wirklich, die noch Bach vermissen? Nicht bloß hören, beiläufig, nebenher, wie man eine alte Postkarte betrachtet, sondern vermissen, in jenem tief existenziellen Sinne, in dem der Verlust einer Stimme, eines Lichtes, einer Ordnung empfunden wird? Wie viele gedenken noch jener titanischen Gebärde Beethovens, mit der der Mensch sich gegen das dumpfe Grollen des Daseins aufrichtet? Wer vernimmt noch das heitere Unergründliche bei Mozart oder das tragische Ringen in Brahms’ Erster Sinfonie, dieser „Zehnten Beethovens“, wie sie einst genannt wurde?
Es sind wenige, viel zu wenige. Und was sagt das über die Menschheit aus?
Die Menschheit, welch klangvoller Begriff. Ein Wort, geschmückt mit Glanz und Pathos, das in Sonntagsreden wie eine Monstranz getragen wird, doch bei näherem Hinsehen oft nicht mehr ist als ein hohler Sammelname für das, was der Philosoph Günther Anders als „prometheische Scham“ bezeichnete: das Bewusstsein des Menschen, Geschöpfe hervorgebracht zu haben, Maschinen, Systeme, Ideologien, die ihn selbst überragen, überrennen, überflüssig machen. In der Summe ihrer Geschichte erscheint die Menschheit nicht selten als ein Träger destruktiver Potenziale, als ein Wesen, das sich mit erschütternder Beharrlichkeit selbst entgleitet.
Der Philosoph Schopenhauer sah in ihr ein „trauriges Tier“, getrieben vom blinden Willen zum Leben, gefangen in der Wiederholung von Leiden. Und auch Nietzsche, dieser große Seismograph des Geistigen, erkannte, dass der Mensch nicht als etwas Fertiges gedacht werden dürfe, sondern allenfalls als ein Übergang, ein gefährliches Vielleicht. Der Mensch als Brücke…aber wohin?
Wer entscheidet über das, was bleibt? Wer hat das Recht – oder die Anmaßung –, die Frage zu stellen: Wer darf überleben? Eine solche Frage riecht nach Zynismus, sie schwankt zwischen göttlichem Gericht und faschistischer Euthanasie. Und doch drängt sie sich auf, unausweichlich, wenn man die Verhältnisse nüchtern betrachtet: Krieg, ökologische Zerstörung, digitale Verrohung. In dieser Welt scheint das Sakrale der Musik, das Tiefgründige der Dichtung, das freie Spiel des Gedankens wie aus der Zeit gefallen – wie ein fernes Echo aus einer besseren Welt, die nie ganz war.
Und dennoch: Ist nicht jede Geburt ein Wagnis in die Zukunft? Ist nicht in jedem Ungeborenen das Versprechen einer Wiederholung des Wunders verborgen? Ein neuer Einstein vielleicht, der dem Universum neue Lesarten entlockt. Ein neuer Hawking, der aus dem Rollstuhl heraus den Kosmos aufspannt wie ein Gedicht. Ein neuer Goethe, der den Menschen in Versen seiner selbst vergewissert. In jedem Kind wohnt das Potenzial eines neuen Maßstabes, ein Versprechen gegen das Unmaß der Gegenwart.
Literatur, Musik, Philosophie, sie sind die Archive unserer Möglichkeiten, Mahnmale und Sternbilder zugleich. Sie erinnern uns an das, was der Mensch sein kann, wenn er sich über sich selbst hinausdenkt. Wenn er sich nicht erschöpft in Konsum und Kalkül, sondern sich selbst als das begreift, was Rilke einst in einem Brief nannte: „etwas, das erst werden will“.
So ist der Mensch, ein Widerspruch, wandelnd. Furchtbar in seiner Gewalt, rührend in seinem Streben nach Sinn, groß in seinen Einzelschöpfungen. Und vielleicht liegt gerade darin seine Rechtfertigung: dass aus dem Schlamm des Gewöhnlichen immer wieder etwas Ungewöhnliches wächst. Dass trotz allem, trotz der Primitivität, der Intoleranz, der Gewalt, ein Cello leise anhebt und die Nacht mit einer Melodie durchwebt, die nicht nur gehört, sondern verstanden wird.