„Besitzt der gegenwärtige Konflikt mit Russland eine kulturelle Dimension?“, so lautet die Frage, die der Geschichtsphilosoph Hauke Ritz für die „Wissenschaftlichen Beiträge des Ostinstituts Wismar“ beantwortet hat. Ritz schickt voraus, „Im 19. Jahrhundert […] existierte eine kulturelle Einheit des europäischen Kontinents, die Russland mit einschloss.[…] Das Ereignis, das diese Entwicklung vorerst beendete, war die Oktoberrevolution von 1917.“ Der nach dem Zweiten Weltkrieg von Churchill als „Eiserner Vorhang“ bezeichnete wirtschaftlich, kulturelle und militärische Wall trennte Russland bis 1989 vom Rest der Welt, besonders aber Europa ab.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Deutschen Wiedervereinigung, so Ritz, „[…], hofften die russischen Eliten auch auf eine kulturelle Rückkehr nach Europa, auf eine Wiederaufnahme in den Kreis der europäischen Staaten.“ Diese Hoffnung wurde, geschuldet der rapiden gesellschaftlich-politischen Entwicklung Europas, enttäuscht.
Während Russland, damals wie übrigens auch heute, die Moderne vertritt, war in Europa längst der Übergang zur Postmoderne vollzogen und damit ein nicht zu überbrückender Gegensatz zwischen Ost und West. Die Moderne, so Hauke Ritz, säkularisiert das Christentum, ohne die von ihm vertretenen Werte in Frage zu stellen. Aus der christlichen Soziallehre wird der Sozialstaat und „Aus der Gleichheit aller Menschen vor Gott wird die Gleichheit vor dem Gesetz.“ Die Säkularisierung war also noch Lesart von Ritz keine Auflösung des Christentums, sondern eine Transformation der Religion in die politisch-sozialen Anforderungen Europas des frühen 20. Jahrhunderts.
Die Postmoderne macht sich seit den 1980er Jahren daran, die Grundsätze der Moderne für obsolet zu erklären. Ritz: „Hierfür werden sogar ganz neue Begriffe geprägt. Einer von ihnen ist der Begriff der „Dekonstruktion“. Die Vertreter der sogenannten „Dekonstruktion“ sehen jede Form von kollektiver Identität als Ausdruck von Herrschaft, Hierarchie und Diskriminierung an. Zuletzt führt diese „Dekonstruktion“ sogar zu der fragwürdigen, aber aktuell wirkmächtigen These von der „Wählbarkeit“ des eigenen Geschlechts, das, in Lesart der postmodernen Identitätsphilosophie, nicht durch die Geburt, sondern durch die Gesellschaft bestimmt wird.
Damit einhergehend ist die Aufweichung des Wahrheitsbegriffs, der, relativiert und den jeweiligen Umständen – politisch oder philosophisch – angepasst werden kann. Wahrheit ist mitnichten eine feste und unverrückbare Maßeinheit mehr, sondern das Konstrukt herrschender Verhältnisse. Bot die Moderne noch Orientierungsmöglichkeiten durch christliche, sozialistische, liberale oder konservative „Weltbilder“ an, „ […] so sind es nun ästhetische Darstellungen und Lifestylekonzepte, die die Orientierungsleistung der modernen Weltanschauungen ersetzen.“ (Ritz). Damit einhergehend findet eine Umwertung sog. Minderheiten statt, deren „Befreiung“ – und Bevorzugung – an die Stelle der an der Mehrheit orientierten Egalität der Moderne getreten ist.
Ist es also wirklich nur ein kultureller Konflikt, der sich aktuell in der Ukraine-Krise zwischen Russland und USA/Europa abspielt, oder liegen tiefere Beweggründe vor, die dazu führen können, diesem (noch) regional begrenzten Konflikt einen größeren Rahmen zu verleihen?
Lässt man die in der jüngsten Vergangenheit stattgefunden habenden globalen politischen Einflussbestrebungen des Westens, besser gesagt, des Duos USA/Europa Revue passieren, dann stellt man fest, das es weniger ein kultureller Konflikt, als vielmehr ein vom „Westen“ z. B. in die arabischen Länder getragener ideologischer Kolonialismus ist, der, unter der Fahne einer vorgeblichen „Demokratisierung“ und, wie in Afghanistan „Nation Building“, den Export sog. „westlicher Werte“ betreibt, die, ohne Kenntnis historischer Entwicklungen, in den Ländern Nordafrikas Chaos geschaffen hat, das von westlichen Medien – unter dem Einfluss US-amerikanischer Lesart – gern „Arabischer Frühling“ genannt wurde und doch in Wirklichkeit, wie in Libyen, die aktive Teilnahme des Westens an Staatsstreichen in nordafrikanischen Ländern gewesen ist.
Der Konflikt mit Russland ist also weniger ein kultureller Konflikt, sondern viel mehr das Bestreben der USA und ihrer Vasallenstaaten, ihre politische und militärische Dominanz bis weit nach Ost-Europa auszuweiten. Dass das von Putin nicht geduldet werden kann, dürfte jedem halbwegs informierten Menschen klar sein. Die wirklichen Kriegstreiber sitzen in Washington und Brüssel. Letztere haben allerdings nur den Status eines Pudels, der gehorsam über die US-amerikanische Latte springen muss.
Die Analyse von Hauke Ritz ist, akademisch betrachtet, von Reiz, doch trifft sie auf keinen Fall die realen politischen Hintergründe. Es ist, bei allem Respekt für den Autor, eine typische Untersuchung aus der Höhe des Elfenbeinturms, die mit der Realität wenig zu tun hat.
Hinter der Ukraine-Krise stecken handfeste wirtschaftliche und globalpolitische Machtinteressen, die Kultur, auch wenn ein deutscher Intellektueller ungern in diesen realpolitischen Kategorien denkt, spielt dabei eine vollkommen untergeordnete Rolle.